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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig
Autoren: Christa Wolf
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richteten, hat er behutsam angefangen, sich von dem Film zu distanzieren, nicht von uns, das nicht. Die schlimmsten Schmähungen hat er uns nicht weitererzählt. Er hat geschwiegen, solange er konnte. Daß auch Urban ihn unter Druck setzte, haben wir nicht von ihm erfahren. Der hatte gesagt, unsere subjektiv ehrliche Absicht bezweifle er nicht, aber die objektive Wirkung dieses Films in der gegenwärtigen Situation sei, nun ja, zwiespältig. Diese Meinung teilte uns Lothar schließlich als seine eigene Meinung mit. Er blickte durch uns hindurch.Das ist alles so lange her, fünfundzwanzig Jahre, ein Vierteljahrhundert. Alles so unvorstellbar geworden. Und hatten sie Urban nicht schon früher verloren? Wie oft im Leben werden wir andere und verlieren diejenigen, mit denen wir jung und, nun ja: unschuldig waren?
    Nacht. Etwas wie Nacht, nur tiefer, dunkler, einsamer. Später wird sie sich an diese nachtvollste Nacht nicht erinnern, nur an ihre Erinnerung daran. Irgendwie mußten sie es geschafft haben, ihren Pulsschlag zu normalisieren. Sie auf eine Station zu bringen und in ein Bett zu legen. Sie ist in einem Zimmer, dieses Zimmer hat ein Fenster, von dem etwas wie ein Schimmer kommt, die Ahnung eines Schimmers. Ihr Hemd ist immer noch naß, ihr Bettzeug auch. Während sie erwacht, setzt ein ohrenzerreißendes Getöse ein, ein schrilles Klirren, nie vorher gehört, als würde Metall mit brutaler Gewalt aufeinandergeschlagen, aneinandergeschmettert, Lanzen, Schwerter. Sie sieht Leiber miteinander kämpfen, in unnatürlichen Haltungen und Verrenkungen ineinander verknäult. Das ist kein Spaß, da macht jemand Ernst mit mir. Wenn ich jemals gedacht haben sollte, ich sei verloren, kann ich nicht gewußt haben, was das Wort bedeutet. Ein höllenmäßiges, durch Mark und Bein gehendes Kreischen und Gellen und Schrillen, ein Dröhnen und Hämmern, ein Zischen, das die Schmerzgrenze übersteigt. Daß es solche Töne gibt, habe ich nichtahnen können, niemand kann es ahnen. Und daß sie als Folter eingesetzt werden. Nun ist es soweit. In diesem kranken grünlichblauen Licht, dessen Quelle ich nicht kenne, bei diesem höllischen Getöse peinigt mich die Geschichte des Schmerzes und der Folter. Die Soldaten des Herodes, welche die kleinen Kinder auf die Spitzen ihrer Schwerter spießen. Die ersten Christen, in der Arena Auge in Auge mit den wilden Tieren, die sie unter gräßlichem Gebrüll zerreißen. Die Greueltaten der Conquistadoren, der Kreuzritter, der Fürsten nach den Bauernkriegen. Die Frau, die, geschunden, im Landwehrkanal treibt. Und da hat mein Jahrhundert erst angefangen. Schinden auf jede denkbare Weise. Das Martyrium und der Untergang der Leiber, mein Leib mitten unter ihnen. Es gibt gnädige bewußtlose Zustände, ob Minuten, Sekunden, sie weiß es nicht.
    Haben Sie Schmerzen? – Sie muß gar nicht oder falsch geantwortet haben. Die Schwester ist wieder gegangen.
    Daß alles seinen Preis hat, ist einer der banalsten Sätze, das weiß sie, der bleibt, wie alle banalen Sätze, nur banal, so lange man ihn nicht am eigenen Leib erfährt. Dafür, daß in diesem Bett etwas endet und danach, falls es ein Danach gibt, etwas anderes anfängt, ist dieses schauerliche Getöse der Preis, und die Qual der Leiber, die mir aus irgendeinem Grund eingebrannt werden soll. Die Pranger,in die Frauen auf den Marktplätzen eingespannt sind. Die Streckbetten und Daumenschrauben, die glühenden Zangen, die Schwedentrünke. Das Vierteilen mit Hilfe von Pferden, das Rädern und Hängen, das Ertränken und Ersticken. Das Vergewaltigen. Jetzt rächt es sich, daß sie von Kind an all die Schilderungen dieser Greuel immer nur hastig überflogen, daß sie im Kino die Augen geschlossen, beim Fernsehen das Zimmer verlassen hat, wenn es wieder losging. Daß sie nur ein einziges Mal in einem ehemaligen Konzentrationslager gewesen ist. Immer wieder muß sie durch den gleichen betonierten schlecht beleuchteten Gang, den sie zu kennen meint, nicht erkennt. In den sie zurückgetrieben wird, wenn sie dem Ausgang nahe ist. Mein Vorgefühl, daß ich hinter den schweren Stahltüren dich treffen werde, wird jedesmal erstickt. Was bedeutet es, daß ich den Ausgang aus diesem unterirdischen Labyrinth da suche, wo ich auch dich zu finden hoffe. Das Getöse geht in ein Rasseln von Ketten über, Ketten unzähliger Gefangener.
    Irgendwann wird es immer Morgen. Es erscheint ein Arzt von unauffälliger Statur, den die Schwester, die ihn begleitet – schon wieder
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