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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig
Autoren: Christa Wolf
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erleichtern schien.
    Pressen können Sie wohl nicht, fragt die hagere Ärztin, da kann der junge Arzt ihr vorwurfsvoll die Bauchwunde der Patientin entgegenhalten, die ja schließlich die Primärerkrankung sei, die Ärztin will sich nicht geschlagen geben, sie versucht es mit starkem Daumendruck auf die Halsschlagader, auch der zeigt keine pulsfrequenzmindernde Wirkung. – Eiswasser? – Sie darf ja nicht trinken. – Ach so. – Nun hatte sie sich auch das Wohlwollen der hageren Ärztin verscherzt.
    Mein Körper geht durch. Gleichnishaft. Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis. Manche Zeilen hatte sie nie wirklich verstanden, ihr Sinn blieb ihr verborgen in einer anscheinend porösen, doch undurchdringlichenDunkelheit, bis heute, bis zu diesem finsteren Augenblick, da der Sinn ihr plötzlich aufgeht. Wenn aber die hundert Jahre endlich vorbei sind, legt jede Dornenhecke sich nieder, hält Theseus den Faden der Ariadne fest in der Hand und findet sicher aus dem Labyrinth, erschließt sich jedes lang genug umworbene Geheimnis. Ob du es mir glaubst oder nicht, ich weiß noch, was mir alles durch den Kopf ging, damals in jener Betriebspoliklinik, ich war erst Mitte Dreißig, jung, so jung, die Zeit schien sich zu dehnen, mein Herz raste, wie jetzt. – Angst? – Ja. – Todesangst? – Nein. – Atypisch.
    Jetzt versucht die hagere Ärztin, jemanden von der Tür zu vertreiben, er kommt trotzdem herein. Aber das bist ja du, wo warst du denn so lange. Ich versuche, dich mit den Augen zu grüßen, weiß natürlich nicht, ob du meine Augensprache gleich verstehen wirst, du redest mit den Ärzten. Sie will sich merken, daß man zu schwach sein kann, sich zu freuen, und daß niemand auf der Welt das wissen kann außer einem selbst. Nun setzt sich die Ärztin auf den Rand ihrer Liege, prüft die Vene in ihrer rechten Armbeuge, befiehlt ihr, eine Faust zu machen – fester! –, führt, für sie fast unmerklich, die Injektionsnadel in die Vene ein und beginnt, im Zeitlupentempo den Kolben in der Spritze herunterzudrücken. Sie macht Pausen. Sie behält die grüne Zackenlinie auf dem Bildschirm, ihre Pulsfrequenz,im Auge. Sie verständigt sich durch Blicke mit dem jungen Arzt, der auf der anderen Seite der Liege steht. Beide schütteln fast unmerklich den Kopf. Das Herz rast. Bist du noch da?
    Oder könnte es nicht sein, daß mein Herz, vor die Wahl gestellt, entweder ganz stillzustehen oder loszurasen, das Losrasen wählt? Zu meinen Gunsten, so gesehen? Nicht daß sie solche Fragen denken würde, aber sie stellen sich von selbst. Alles um sie herum, dieser kahle unwirtliche Raum, diese Apparate, an die sie mit Schläuchen und Kabeln angeschlossen ist, der Puls, der sich nicht beruhigt, auch nicht, nachdem die Ärztin entschlossen den letzten Tropfen aus der Spritze in ihr Adernetz gepreßt hat, das alles drückt die Fragen aus, die sie in Worten nicht stellen kann. Geh, sage ich zu dir, bitte geh doch. Es strengt mich an, daß du da bist. Bitte geh. – Sie will sich merken, daß es zu anstrengend sein kann, wenn der nächste Mensch im gleichen Raum ist wie man selbst.
    Wie lange hat mein Puls damals gebraucht, sich zu beruhigen? Mehr als zwei Stunden, glaube ich. Unser Film war längst gelaufen, erfolgreich, wie Lothar mir noch mehrmals versicherte, nach menschlichem Ermessen könne es keine Schwierigkeiten bei der Abnahme mehr geben. Die Ärztin hatte Auftrag, ihn anzurufen, wenn ich »transportfähig« sei. Er hatte einen Dienstwagen für mich bestellt, und ich war ganz froh, daß ich die Stufen zum Bus nichthochklettern mußte. Ich war erschöpft, auf eine nicht unangenehme Weise erschöpft, kein Wunder, hörte ich, mein Herz hätte einen Marathonlauf hinter sich. Ich war allein zu Hause und schlief tief und lange. Urban war der erste, der mich am nächsten Morgen anrief, und ich bedankte mich aufrichtig bei ihm für seine Anteilnahme. Die Aufrichtigkeit ließ dann bald nach, von beiden Seiten, das muß ich zugeben. Man denkt ja, wenn der andere nicht aufrichtig ist, hat man das Recht, sich auch ein wenig zu verstellen. Unsere Verstellung bestand darin, weißt du das noch, daß wir lange Zeit so taten, als glaubten wir noch an Urbans Aufrichtigkeit. Die Auseinandersetzungen über den Film fingen ja bald an. Lothar hat uns nicht noch einmal zu ihm gratuliert, aber er hat ihn auch nicht sofort aufgegeben. Er hat, das hielten wir ihm zugute, sich zum Prellbock gemacht. Doch als die Angriffe sich dann auch gegen ihn
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