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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig
Autoren: Christa Wolf
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Urban, als sie endlich bei ihm anlangte, unkontrolliert durch den Zoll wie er selbst. Er lächelte etwas schief, natürlich empfand er einen verqueren Neid darüber, daß die Computer sie nicht so glatt passieren ließen wie ihn, andererseits hätte es ihn beunruhigt, wenn er so lange auf seine Papiere hätte warten müssen wie sie. Gleich am Ausgang jenes in der Welt einmaligen Gebäudes, das über dem Zu- und Abgang zur Gegenwelt errichtet ist, trennten sich ihre Wege. Ihr alter Freund Urban ging zum Taxistand vor dem S-Bahnhof Friedrichstraße, sie wendete sich nach links zur Weidendammer Brücke, die ich nie überquere, ohne den gußeisernen preußischen Adler am Geländer mit einem spöttischen Lächeln zu grüßen, ihn möglichst sogar zu berühren.
    Ich hatte Urban nicht gefragt, welche Funktion er jetzt bekleidete, er schien es als selbstverständlich vorauszusetzen, daß ich seinen Werdegang verfolgt hatte, der ihn nach einem uns alle überzeugenden und durchschaubaren Beginn logischerweise von Stufe zu Stufe aufwärts, dann irgendwann ins Unsichtbare geführt und sich hinter den Kulissen anscheinend erfolgreich fortgesetzt hatte. Ich drehtemich nicht nach ihm um, spürte aber im Rücken, daß er mir nachsah.
    Wenn man lange genug lebt, wiederholen sich Situationen, auch indem sie sich in ihr Gegenteil verkehren. Einmal, vor Jahren, hatte ich ihm so nachgesehen, er war, das mußte nach einer Sitzung gewesen sein, Eile vortäuschend die Treppe hinunter entschwunden, ohne sich von ihr zu verabschieden, den Anlaß hatte sie vergessen, nur daß er sich anscheinend wegen irgendeines Vorfalls vor ihr genierte, ihr jedenfalls aus dem Weg gehen wollte. Ja, da hatte sie ihm lange nachgesehen, und ihr war nicht wohl dabei gewesen.
    Wie sie sich jetzt fühlt? Sie müßte dem Chefarzt immerzu das gleiche sagen: am Boden eines Schachts, aus dem ich nicht herauskomme, weil mir die Kraft dazu fehlt. Sie sagt: Es geht. Er scheint sich weniger auf ihre Auskünfte als auf seine eigenen Untersuchungsergebnisse zu verlassen, er tastet sie ab, fühlt ihr den Puls, zieht ihre Augenlider hoch, will auch ihre neueste Temperatur noch wissen, da muß ihn die Stationsschwester Christine darauf hinweisen, daß nur zweimal täglich gemessen werde, woraufhin der Chefarzt anordnet, diese Patientin habe man alle drei Stunden zu messen, seien Sie so freundlich, sagt er zu der Stationsschwester, die hübsches blondes Haar hat, das sich um ihr Gesicht ringelt. Sie notiert die Anordnung, ohne sich dazu zu äußern. Aber etwas wie ein Beleidigtseinum die Mundwinkel kann sie nicht verbergen. Was ist, Schwester Christine, sagt der Chefarzt. Er erfährt, daß die Station mit Schwestern unterbesetzt ist. Sie, die zwar kaum sprechen, aber doch ganz gut hören kann, will auf keinen Fall wissen, welche Komplikationen für die Pflege der Patienten sich daraus ergeben, und ist dem Chefarzt dankbar, daß er der Schwester bedeutet, sie möge später mit ihm darüber reden. Für die Patientin verordnet er eine sensationelle Neuerung: Sie könne »schluckweis« etwas Tee trinken. Vor ihr erscheint wieder das Phantom eines riesigen Glases Bier, der weiße Schaum quillt verführerisch über den Rand, es will ihr nicht gelingen, die Erscheinung zu verdrängen. Sie wartet auf den Tee und fragt sich, ob irgendeine der Schwestern, die sie da lachend, schwatzend Betten schiebend über den Flur laufen hört, sich vorstellen kann, was jede Minute, die sie länger auf den Tee warten muß, für sie bedeutet. Eine der beiden Jungen bringt dann die Tasse, die Schwarze, Hübsche mit dem Leberfleck auf der linken Wange, flott stellt sie sie auf den Nachttisch und verschwindet wieder, es scheint sie nicht zu kümmern, ob die Durstige mit ihrem rechten Arm den Nachttisch erreichen, ob sie ihren Kopf weit genug anheben kann, um aus dieser Tasse zu trinken. Da kommt zu ihrem großen Glück ein junger Mann in weißem Kittel mit ganz kurz geschnittenem Haar herein und beobachtet ihre Bemühungen. Na! sagt er, geht hinausund kommt nach Sekunden mit einer Schnabeltasse zurück, gießt den Tee um, stützt ihr den Kopf, hält die Tasse. So geht es doch besser, nicht? Sie trinkt, es gibt auf der Welt nicht nur das Wort, es gibt es wirklich: trinken. Danke, sagt sie. Evelyn ist erst Schülerin, sagt er. Zweites Lehrjahr. Da sieht man manches noch nicht so. Er heißt Jürgen, ist im dritten Lehrjahr und steht kurz vor der Prüfung. Er tröstet sie darüber, daß sie nicht mehr als
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