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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig
Autoren: Christa Wolf
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Jahre als Pfleger zu arbeiten und sich dann vom Krankenhaus zum Medizinstudium delegieren zu lassen.
    Schwester Evelyn hat solchen Ehrgeiz nicht, es scheint hauptsächlich ihr Bestreben zu sein, sich vorteilhaft zurechtzumachen, ihr tiefschwarzes Haar ist sorgfältig in Strähnen auf ihrem Kopf drapiert, Augen- und Lippenschminke sind tadellos. Also ab durch die Mitte, sagt sie. Es ist ihr nicht gegeben, das Bett unbeschadet an Hindernissen vorbeizusteuern, sie stoßen an jedem Pfosten an, an jeder Ecke, an jeder Fahrstuhltür, Schwester Evelyn sagt jedesmal:Hoppla! und zuckelt mit dem Bett hin und her, die Patientin verzieht das Gesicht, Evelyn sagt: Tut weh, nicht? Ja, das glaub ich!, und fuhrwerkt weiter. Es stellt sich heraus, daß sie noch nie in der radiologischen Abteilung war, sie ist ja erst im zweiten Lehrjahr, sie macht ja hier zum erstenmal ein Praktikum.
    Die Patientin weiß nicht, wie das Krankenhaus von außen aussieht, aber allmählich begreift sie, es muß sich um einen Komplex von Gebäuden handeln, die durch lange Betongänge miteinander verbunden sind, die ihr merkwürdig bekannt vorkommen, die ihr nichts Gutes verheißen. Angstvoll entziffert sie die weißen Buchstaben auf den Leuchtschriftpfeilen, die nach STATION B 1 zeigen oder nach der PHYSIOTHERAPIE , einmal auch zum RÖNTGEN , aber das alles suchen sie ja nicht. Die reguläre Arbeitszeit scheint zu Ende zu sein, sie treffen keinen Menschen mehr, Schwester Evelyn fragt sich schon laut, ob sie wohl jemals ankommen würden, die Patientin versucht die Panik zurückzudrängen, die dicht unter der Oberfläche ihres Bewußtseins lauert, da tauchen wie eine Vision zwei Gestalten vor ihnen auf, junge Frauen in hellen Blusen und schwingenden Sommerröcken, sie gehen, beinahe hüpfend vor Lebenslust, miteinander schwatzend und lachend den düsteren Gang hinunter, von jeder Art Furcht unangefochten, und wunderbarerweise wissen sie, wo die Abteilung ist, diesie suchen, genau und zuvorkommend beschreiben sie den Weg. Allerdings seien wir ein wenig in die Irre gegangen. Als Schwester Evelyn mit dem Bett in den Gang einbiegt, der tatsächlich mit dem Pfeil RADIOLOGIE gekennzeichnet ist, spüre ich, daß mir Tränen über das Gesicht laufen, zum erstenmal in all den Tagen – wie viele können es eigentlich sein: fünf? sechs? –, seit die Landärztin, die man gegen ihren Protest endlich gerufen hatte, schon von der Tür her die Diagnose benannt hatte: Aber das ist doch Blinddarm! – und sofort, wieder gegen ihren Einspruch, einen Krankenwagen herbeitelefonierte, der sie auf holprigen Straßen in eine Gegenwelt fuhr. Jetzt ist sie ziemlich weit herunter, in jedem Sinn. Dann schreit sie auf, es kommen blinkende Ungeheuer auf sie zu, viereckige plumpe Roboterfahrzeuge, die eine rote Signallampe – darf man sagen: auf der Stirn? – haben, mit der sie aufgeregt blinken, während sie direkt ihr Bett ansteuern. Vorsicht! ruft sie, und Schwester Evelyn sagt gleichmütig: Ach, die Dinger!, woraufhin die Monster ganz dicht und surrend an ihnen vorbeirumpeln. – Was war das! – Aber das sind doch unsere Container, computergesteuert, die transportieren uns das Essen und die Bettwäsche, komisch sind sie ja, aber ganz praktisch.
    Als sie endlich in den Raum geschoben worden ist, in dem die große Maschine steht, still und drohend, das Übermonster, muß sie nur noch von ihremBett auf die Pritsche kommen, wieder so eine Unmöglichkeit, ist ja auch kaum jemand da, um zu helfen, Notbesetzung, hört sie. Man habe nur noch auf sie gewartet. Sie kaut an dem Wort »Not« herum. Ein junger Arzt zeigt ihr eine Kanne: Dies müsse sie nur noch schnell trinken. Aber das könne sie nicht, sagt sie erschrocken. Sie müssen. Genau diese Flüssigkeit werde noch als Kontrastmittel gebraucht. Sie setzt die Tasse an, etwas rinnt in ihren Mund, das scheußlicher schmeckt als alles, was sie bisher essen oder trinken mußte. Hintereinanderweg schluckt sie. Sie hat die Tasse noch nicht abgesetzt, da kommt alles, was sie eben, und dazu das, was sie vorhin hat trinken müssen, in einem Schwall wieder heraus, ihr Hemd, das Laken, den Fußboden beschmutzend, peinlich und erleichternd. Zwei Schwestern wischen an ihr herum, plötzlich gibt es sogar ein frisches Hemd, sie sagt: Nun ist alles umsonst gewesen, aber der junge Arzt will nicht aufgeben. Er werde ihr jetzt ein Kontrastmittel spritzen. Warum nicht gleich, denkt sie, sagt sie nicht. Warum diese Trinkfolter, der Schwedentrunk. Und
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