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Die Saat

Die Saat

Titel: Die Saat
Autoren: Guillermo Del Toro
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Die Legende von Jusef Sardu
     
    »Es war einmal«, sagte Abraham Setrakians Großmutter, »ein Riese.«
    Die Augen des kleinen Abraham begannen zu leuchten, und der Borschtsch in der hölzernen Schale schmeckte gleich besser - oder doch zumindest etwas weniger nach Knoblauch. Er war ein blasser Knabe, mager und kränklich. Seine Großmutter, die die feste Absicht hatte, ihn aufzupäppeln, saß ihm gegenüber, während er seine Suppe aß, und erzählte ihm eine Geschichte.
    Eine
bubbe meise,
eine »Großmutter-Geschichte«. Ein Märchen. Eine Legende.
    »Er war der Sohn eines polnischen Adeligen, und sein Name war Jusef Sardu. Der Herr Sardu war größer als jeder andere Mann. Er überragte noch jedes Dach im Dorf. Bei jeder Tür musste er sich tief bücken, um hindurchgehen zu können. Aber seine Größe, sie war für ihn auch eine Bürde. Ein Geburtsfehler - kein Segen. Der junge Mann litt. Seinen Muskeln fehlte die Kraft, die langen, schweren Knochen zu tragen. Es gab Tage, da war für ihn allein schon das Gehen ein Kampf. Er benutzte einen Gehstock, einen langen Stab - länger, als du groß bist - mit einem silbernen Knauf in Form eines Wolfskopfes, dem Wappentier der Familie.«
    »Und dann, Bubbe?«, fragte Abraham zwischen zwei Löffeln.
    »Dies war sein Schicksal, und es lehrte ihn Demut, wahrlich eine seltene Eigenschaft bei einem Adeligen. Er hatte viel Mitgefühl für die Armen, die hart Arbeitenden, die Kranken. Ganz besonders die Kinder im Dorf waren ihm lieb und teuer, und seine großen, tiefen Taschen - so groß wie Rübensäcke - waren prall gefüllt mit Süßigkeiten und billigem Schmuck. Er selbst hatte keine richtige Kindheit gehabt, war er doch mit acht Jahren schon so groß wie sein Vater und mit neun bereits einen Kopf größer gewesen. Im Stillen schämte sich sein Vater für die Zartheit und Riesenhaftigkeit des Sohnes. Doch der Herr Sardu war ein freundlicher Riese und wurde von seinem Volk sehr geliebt. Man sagte über ihn, er blicke zwar auf jeden herunter, aber auf niemanden herab. «
    Die Großmutter nickte Abraham aufmunternd zu und erinnerte ihn, noch einen Löffel Suppe zu essen. Er kaute gerade auf einem Stück gekochter Roter Bete, wegen ihrer Farbe, Form und den kapillargleichen Fasern auch »Säuglingsherz« genannt.
    »Und dann, Bubbe?«
    »Er liebte auch die Natur und hegte keinerlei Interesse für die Jagd, die ihm zu grausam erschien. Doch im Alter von fünfzehn Jahren drängten sein Vater und seine Onkel ihn als Mann von Rang und Adel, sie auf einen sechswöchigen Jagdausflug nach Rumänien zu begleiten.«
    »Hierher, Bubbe?«, fragte Abraham. »Der Riese - er ist hierher zu uns gekommen?«
    »Ja, in den Norden,
kaddischel.
In die dunklen Wälder.
    Die Männer der Sardu-Familie kamen nicht, um Wildschweine, Bären oder Elche zu jagen. Sie kamen, um Jagd auf den Wolf zu machen, auf das Symbol der Familie, das Wappentier des Hauses Sardu. Sie jagten ein Raubtier. Der Überlieferung zufolge verlieh der Verzehr von Wolfsfleisch den Sardu-Männern Kraft und Mut, und der Vater des jungen Herrn glaubte, dass es auch die schwachen Muskeln seines Sohnes heilen könnte.«
    »Und dann, Bubbe?«
    »Ihre Reise war lang und beschwerlich, auch schlechtes Wetter machte ihnen zu schaffen, und so hatte Jusef schwer zu kämpfen. Er hatte sein Dorf noch nie zuvor verlassen, und die Blicke, mit denen er unterwegs von Fremden bedacht wurde, beschämten ihn. Als sie den dunklen Wald erreichten, fühlte sich das Land um ihn herum lebendig an. Des Nachts durchstreiften Herden von Tieren den Wald, fast wie Flüchtlinge, vertrieben aus ihren Verstecken, Höhlen, Nestern und Schlupfwinkeln. So viele, dass die Jäger in ihrem Lager nicht schlafen konnten. Einige wollten umkehren, zurück nach Hause reisen, doch die Besessenheit des ältesten Sardu war stärker als alles andere. Sie konnten die Wölfe hören, die in der Nacht heulten, und er wollte so verzweifelt einen davon für seinen Sohn, seinen einzigen Sohn, dessen Riesenhaftigkeit wie eine Seuche auf der Geschlechterfolge der Sardu lastete. Er wollte das Haus Sardu von diesem Fluch befreien und seinen Sohn verheiraten, damit er viele gesunde Erben zeugte. Und so kam es, dass sein Vater am zweiten Abend, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, von den anderen getrennt wurde, als er gerade einen Wolf verfolgte. Die übrigen Männer warteten die ganze Nacht auf ihn und schwärmten unmittelbar nach Sonnenaufgang aus, um ihn zu suchen. Und an diesem Abend
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