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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig
Autoren: Christa Wolf
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könne. Eine Welle von Dankbarkeit überflutet mich. Er hat es bemerkt, er kommt herein, er schafft Abhilfe. Man brauche noch genauere Werte. Es zeichne sich da etwas ab. Der Chirurg werde diese Information zu schätzen wissen.
    Der Chirurg ist also beschlossene Sache. Ich veratme mich einmal, noch einmal, die junge männliche Stimme übernimmt das Mikrophon, befiehlt mir väterlich, ganz ruhig zu sein. Mich zu konzentrieren. Einatmen – Luft anhalten – ausatmen. Es klappt. Ich finde den Rhythmus wieder, höre auf zu denken. Eine Frage steht im Raum: Was ist Menschenglück? Aufsatzthema einer Lehrerin, die von uns lesen wollte, Deutsche zu sein sei unser höchstes Glück.
    Das habe ich Urban erzählt, in jener Frühzeit, in der ich dich noch nicht kannte, tatsächlich, ich kannte ihn eher als dich, und ich muß ihm Dinge erzählt haben, die später dir vorbehalten waren, wir standen vor der Mensa, in jener versunkenen Frühzeit, in die ich jetzt nur wegen meiner totalen Ohnmacht eintauche, eingetaucht werde, da ich keinen Widerstand leisten kann, total ist hier das richtige Wort, sonst kann ich es nicht mehr verwenden, es ist verbraucht durch die eine schauerliche Frage, die schwingt nun, generationsgebunden, in jedem Satz mit, in dem das Wort »total« vorkommt, totalverrückt, total erschöpft, höre ich die Leute sagen, erst heute die junge Lernschwester Evelyn: Das sei wieder mal total überflüssig gewesen – ich weiß nicht, was, und sie mag recht haben, vollkommen überflüssig mag vieles von dem sein, was man ihr sagt oder zu tun aufgibt, aber total ist nur der Krieg. Allerdings auch total überflüssig. Was ist Menschenglück, heute. Die Frage stellte ich Urban vor der Mensa, er lachte, er sagte, karikierte den Versammlungston, leicht sächselnd: Nun was schon, Genossin. Der Kampf gegen die Unterdrücker! Ich lachte, du wirst es nicht glauben, einst konnte man mit Urban ganz gut lachen, ein Wort wie »diabolisch« wäre uns nicht in den Sinn gekommen, da trat Lorchen heran und kündigte dich an, ich blickte auf, da standest du in deiner verwaschenen Luftwaffenhelferjacke auf der Treppe und sahst Lorchen unwillig an, blicktest dann prüfend auf mich, und das war der Blick. Das Bild glitt in mein inneres Archiv zu den unzerstörbaren Stücken. Ausatmen, nicht mehr atmen. Menschenglück ist alles außerhalb dieser verfluchten Maschine, außerhalb dieses Raumes mit den zwei fest verschlossenen Stahltüren.
    Wieder im bekannten, beinahe vertrauten Zimmer zu liegen, egal an wie viele Schläuche angeschlossen, es scheinen immer mehr zu werden, sie verliert die Übersicht. Wenn sie nicht so schwach wäre, würde es sie wohl faszinieren, daß man lebenkann, ohne zu essen und ohne auszuscheiden. Daß man Tage und Nächte lang bewegungslos auf dem Rücken liegen kann. Du bist plötzlich wieder da, stehst am Bett, interessierst dich, Betroffenheit verbergend, für die Einschränkungen, die du siehst. Nein, sage ich, die eigentliche Tortur ist etwas anderes. Ich erzähle dir, Grauen in der Stimme, von der Maschine, die im innersten Innern dieses Hauses lauert, der Minotaurus im Labyrinth. Du bist irritiert, das sehe ich dir an, du zweifelst, gleich wirst du einen deiner Aber-Sätze sagen gegen meine Übertreibung immer, da sagst du schon: Aber nun wissen sie wenigstens, wo sie operieren müssen, das habe der Chefarzt dir gesagt. – Du habest ihn also schon wieder gesprochen? – Ihr seid verabredet gewesen. – Aha.
    Morgen früh. Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt. Zu den außerordentlichen Eigenschaften der Mutter hat ihre schöne Stimme gehört. Ein Sopran. Warum weinst du, holde Gärtnersfrau.
    Du sagst ja nichts.
    Ich höre.
    Es muß sein.
    Wer hat das gesagt: Du? Der Chefarzt, der auch schon wieder an ihrem Bett steht? Morgen früh also. Beide sehen sie an, als müßte sie jetzt etwas äußern, Zustimmung oder Protest. Aber sie will sich nicht über Künftiges beklagen, nur über Gewesenes.Sie beklagt sich über das Getränk. Über die Unmenge. Die Zumutung, nach so langer totaler Enthaltsamkeit diese Unmenge trinken zu sollen. Das kann man nicht, sagt sie beschwörend, für alle jene mit, welche die gleiche Zumutung noch erfahren werden. Ja, sagt der Chefarzt in seiner unerschütterlichen Höflichkeit. Das sehe er ein. Aber in den Tomographen habe er sich selbst schon einmal, probeweise... Er bricht ab. Sie hält ihm zugute, daß er abbricht und sich selber ins Wort fällt. Probeweise. Er
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