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Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)

Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)

Titel: Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
Autoren: Manfred Lütz
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Rudelexistenz. »Der Sinn, und dieser Satz steht fest, ist stets der Unsinn, den man lässt«, dichtete Odo Marquard, den wir schon kennen lernten, voller Skepsis.
    Die Lust am Leben und das Glück gibt es jedenfalls nicht auf den Trampelpfaden des Lebens und sie stellen sich eher beiläufig ein. Es ist nicht gleich der gewaltige Sinn, das unermessliche Glück, der laute Triumph. Für eine »Diäthetik der Sinnerwartung« plädiert Odo Marquard. Wie der Gott des Alten Testaments sich nicht im Wirbelsturm, sondern im leisen Windhauch offenbart, so sind es zumeist die kleinen in Muße wahrgenommenen Ereignisse im Leben, die die Lebenslust speisen: das Lächeln eines Kindes, die zufällige Melodie aus dem Radio, die hinreißende Färbung einer toskanischen Landschaft, das beiläufige Erlebnis eines völlig unbekannten uneigennützig guten Menschen, aber auch die Betrachtung der glutvollen Bilder des Iacopo Tintoretto in der Scuola di San Rocco in Venedig. All das ist keine graue Theorie, es hat den intensiven Geschmack von Wirklichkeit. Und manchmal haben gerade Kinder mehr Sinn dafür. Kinder sehen die Welt noch nicht durch die Brille einer wie immer gearteten ausgedachten Weltanschauung, sondern sie nehmen sie unmittelbarer und auch sinnlicher wahr. Kinder haben viel Sinn für Lebenslust. Zweckfreies Spiel können ungeduldige Erwachsene vielleicht am besten von Kindern ablauschen.
    Das Wahre, das Gute und das Schöne suchten die alten Griechen im Leben und darin das Glück oder besser: die Lebenslust, denn das Glück war den Griechen nie bloß abstrakt. Und sie wussten, dass all das nicht so zu haben ist, wie vieles andere zu haben ist, dass es nicht dem Wissen, sondern nur der Weisheit zugänglich ist, und vor allem waren sie sich sicher: Es ist ein Geschenk der Muße.
    Wahrheit, die Wahrheit, die das Leben trägt, ist für Platon nicht berechenbar. Sie ist nicht das Ergebnis jahrelanger biederer Forschungsbemühungen. Wahrheit, wie Platon sie versteht, »blitzt auf im Moment«. Sie ist nicht ausgedacht, sondern sie ereignet sich. Sie ist daher auch kein Besitz, dessen man sich in selbstverliebter Wahrheitsgewissheit rühmen kann. Wer Wahrheit endgültig zu besitzen wähnte, wäre geistig tot. Nichts könnte ihn mehr überraschen, auf nichts wäre er mehr neugierig. Dass die Wahrheit unermesslich ist und sich dadurch dem herrscherlichen Zugriff des Menschen entzieht, das ist Voraussetzung für geistige Lebendigkeit. Weise Menschen, die in Momenten der Muße staunend der Wahrheit begegnet sind, zeichnen sich durch wache Lebendigkeit aus, durch eine Lust am Leben, die sich aus der Unausschöpflichkeit der Wahrheit speist. Denn wer die Wahrheit in diesem Leben erlebt, der erlebt auch, dass sie ihm in ihrer letzten Fülle immer noch bevorsteht. Die Antwort auf die uralte Frage nach der Wahrheit wird man also nicht der unendlichen Geschwätzigkeit von Ratgebern entnehmen. Vielleicht am radikalsten wird sie am dramatischen Höhepunkt des Johannesevangeliums beantwortet.
    »Was ist Wahrheit?«, fragt der römische Prokurator Pontius Pilatus, Herr über Leben und Tod in Palästina. Und die wichtige Antwort Christi ist – Schweigen. Denn die Wahrheit ist nicht mit Worten definierbar. Die bei weitem meisten Dogmen der Kirche sind Dogmen gegen Leute, die behaupteten, sie und sie allein wüssten sie, die Wahrheit. Man müsse das Schweigen Christi vernehmen, um vollkommen zu sein, behauptet Ignatius von Antiochien. An anderer Stelle des Johannesevangeliums aber sagt Christus: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.« Die Wahrheit enthüllt sich nicht im Gerede, sie ist nicht festzuhalten in einer ausgedachten Ideologie, sondern sie ereignet sich in der Begegnung mit Menschen, für Christen vor allem in der Begegnung mit dem Mensch gewordenen Gott. Man hat den Weg von Christen daher am besten als Nachfolge Christi gedeutet. Und daher ist auch die Antwort auf die Frage nach dem Sinn und dem Heil des Lebens nicht in einem Buch zu lesen, sondern sie erwächst aus der Erfahrung eines Lebens.
    Wie die Wahrheit, so ist auch das Gute nicht definierbar. Wer will schon sicher wissen, ob ein Mensch wirklich gut ist! Es gibt keinen psychologischen Test, mit dem man hätte beweisen können, das Mutter Teresa von Kalkutta ein guter Mensch war. Die These, dass sie vielleicht eine geschickte Strategin der Selbstverwirklichung gewesen sei, ist mit wissenschaftlichen Tests nicht widerlegbar – allerdings natürlich auch nicht beweisbar.
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