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Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)

Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)

Titel: Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
Autoren: Manfred Lütz
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davon ist der berühmte Isenheimer Altar von Matthias Grünewald, der heute in Colmar zu sehen ist. Dieses gewaltige Kunstwerk hing ursprünglich in einem Antoniterkrankenhaus in Isenheim. Nicht irgendwo. Sondern ganz zentral. Im Krankensaal an der Stirnwand. Und alle Krankenbetten waren auf dieses Bild hin ausgerichtet. Von morgens bis abends schauten die Kranken auf dieses Heiltum, das die ganze Drastik des Leidens Christi am Kreuze vor dem Auge des Betrachters Gestalt werden ließ. In diesem mit ihnen schrecklich mitleidenden Gott sahen sie aber zugleich wirklich und wirksam ihre eigene Erlösung, ihr Heil. Hier sind Heil und Heilung wahrhaft ganz dicht beieinander. Wer die Kraft dieses Gemäldes kennt und eine wirklich ganzheitliche Sicht von Gesundheit teilt, der wird nicht an der heilenden Wirkung des Isenheimer Altars zweifeln.
    Wenn die Betrachtung von Kunst zur Gesundheit führen kann, dann hat das keine Risiken und keine Nebenwirkungen außer der erfreulichen, dass das Erlebnis der Kunst zugleich zur Lebenslust beiträgt. Und wenn man so im besten Falle sogar noch dem Tod von der Schippe springt, dann hat man dadurch zu allem Überfluss auch noch länger Spaß am Leben. Um nicht missverstanden zu werden, ich plädiere hier nicht für einen Großtransport aller Krankenhausinsassen in die örtlichen Museen vor die entsprechenden Bilder. Auch ich werde die moderne Medizin gerne in Anpruch nehmen, wenn das erforderlich ist. Aber wenn man die Beziehung von Heilung und Heil konkret erleben will, dann ist der Isenheimer Altar dafür eher geeignet als das Aachener Klinikum.
    Der Isenheimer Altar gehört zu den Kunstwerken, die den Menschen nicht bloß ganzheitlich heilen können. Er lässt vielmehr das Heil konkret Gestalt gewinnen. Er vermag Menschen herauszureißen aus dem lustlosen Getriebe ihres Lebens und sie so zu ergreifen, dass sie in Betrachtung versunken einen Funken Ewigkeit erleben. Vor dem Isenheimer Altar kann man religiös werden. Das gilt gewiss auch von vielen anderen Kunstwerken, wie der Assunta von Tizian in I Frari in Venedig oder der Pietà von Michelangelo in Sankt Peter in Rom. Nicht nur in der Begegnung mit konkreten bekennenden Menschen kann sich jemand der Religion öffnen, sondern auch in der Begegnung mit ihren künstlerischen Zeugnissen, die die Zeit sprengen und die Wahrheit auf undefinierbare Weise allzeit gegenwärtig machen. Die orthodoxen Christen haben sich die sinnliche Gegenwart Christi im Bild der Ikone noch viel lebendiger gehalten als die eher vom begrifflichen Denken geprägten westlichen Christen.
    Lust ist immer auch sinnlich. Lebenslust ebenso. Religion, die rein geistig wäre, könnte der Lebenslust daher nur abträglich sein. Dass Religion in unseren Breiten inzwischen weitgehend so wahrgenommen wird, sozusagen als der große Spielverderber der Lust, hat verschiedene Gründe, auf die ich andernorts eingegangen bin (vgl. Manfred Lütz, Der blockierte Riese. Psycho-Analyse der katholischen Kirche, Pattloch Verlag, Augsburg 1999). Zumindest mit dem Christentum aber haben solche Vorurteile nichts zu tun. Das Christentum ist sogar so extrem sinnlich, dass ihm das in seinen Anfängen, wie wir schon sahen, den Vorwurf der Gotteslästerung eingetragen hat. Aber kann man Gott wirklich sinnlich, ästhetisch erfahren? Die Christen jedenfalls glauben das. Als ich einmal einen jungen Inder erlebte, der erklären sollte, was der Unterschied zwischen den verschiedenen Religionen seines Landes sei, da war er in der Lage, die Differenzen begrifflich außerordentlich präzise darzulegen, aber schließlich unterbrach er sich und rief mit leuchtenden Augen aus: »Das Christentum ist einfach schöner!« Die ästhetische Erfahrung der Religion ist dem Eigentlichen der Religion sehr angemessen.
    Bloß ausgedachter Sinn ist kein Sinn, sondern Unsinn. Die Esoterikwelle lebt von solchen halbseidenen, aber gut verkäuflichen Originalitäten. »Mein Meister erfindet gerade eine Religion für den Osten«, sagte mir neulich ein höchst naiver Esoterikfreak, Begeisterung in der Stimme. Solche »Religionen« sind nichts als teures Plastikspielzeug und für schlichte Gemüter allenfalls Beruhigungsmittel gegen die Angst vor dem Leben und die Angst vor dem Tod. Die Nebenwirkungen solcher Beruhigungsmittel sind allerdings verheerend. Sie führen ihre Konsumenten nicht selten in eine Abhängigkeit, die ihnen eine virtuelle Welt vorgaukelt, so dass sie ihr eigenes Leben in der Wirklichkeit verpassen. Denn
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