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Lebenslauf zweiter Absatz

Lebenslauf zweiter Absatz

Titel: Lebenslauf zweiter Absatz
Autoren: Hermann Kant
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schon nicht mehr zu halten.
    Sie setzte ihren Stuhl neben den meinen, und dann flüsterte sie: »Hier, den zehnten Auftritt! Sie sind Lionel, und ich bin Johanna.«
    »Wer bin ich?« sagte ich und wollte beiseite rücken. Aber sie hielt mich fest. »Sie sind Lionel, Sie Süßer, der Engländer, der Johanna mit dem Schwert bedrängt!«
    »Ah, ja«, sagte ich und wünschte mir, ich hätte ein Schwert zur Hand.
    Sie konnte wohl Gedanken lesen, wenn auch nur auf ihre Art, denn sie sah sich auf dem Schreibtisch um, drängte mir mein Bogenlineal in die Finger und sagte: »Ihr Schwert – so, und nun müssen Sie lesen: ›Ich bin Lionel, der letzte von den Fürsten unseres Heers, und unbezwungen noch ist dieser Arm.‹« Sie hob meinen Arm mit dem Schwert hoch. Ich murmelte nur etwas.
    Sie legte den Finger auf die Regieanweisung und las:»›Er dringt auf sie ein; nach einem kurzen Gefechte schlägt sie ihm das Schwert aus der Hand.‹« Sie schlug tatsächlich mit ihrer knochigen Pfote zu, daß mein Lineal zu Boden fiel.
    »›Treuloses Glück‹, müssen Sie nun sagen«, kreischte sie.
    Ich sagte ergeben: »Treuloses Glück.«
    Sie pochte wieder auf eine Stelle in dem Buch und sagte erwartungsvoll: »›Er ringt mit ihr‹, steht da, allez, nun müssen Sie mit mir ringen!«
    Ehe sie einen Griff anbringen konnte, brachte ich den Schreibtisch zwischen uns. »Sie hatten eigentlich nur von Lesen gesprochen«, sagte ich, »und außerdem muß ich mich jetzt wirklich um diesen Kurzschluß kümmern. Schade, ist sonst wirklich ein schönes Buch …«
    Ich nahm meine Werkzeugtasche und machte, daß ich hinauskam.
    Die ganze Zeit über hatte ich gewußt, daß dies ein unangenehmer Auftrag war, und wenn ich es auch eine Weile vergessen hatte, jetzt würde ich wohl wieder daran denken.
    Das beste war, ich warf den Kram hin. Lionel! – und dann dieses rosa Gewitter, das war mehr, als mein Meister von mir verlangen konnte. Mochte er sehen, wie er an den Schnaps von Herrn Buttewegg herankam. Er würde natürlich ganz schön toben, wenn ich schon nach ein paar Stunden zurückkehrte, und die anderen Lehrlinge würden sich kranklachen, aber das war immer noch leichter zu tragen als Dornröschen von Orleans mit ihren Dichtergesichtern und diesem gräßlichen Rosa.
    Das Märchen vom Glasberg ist aus, dachte ich und machte mich auf die Suche nach Herrn Buttewegg.Schlimm, daß ich den Mund so voll genommen hatte, der würde jetzt wieder obenauf sein und mir die neuartige invertierte Methode und mein Spezialistentum hübsch einreiben. Aber hatte ich wissen können, daß dies tatsächlich eine Art Irrenhaus war?
    Schon Frau Zieselmaus Buttewegg wäre ein Grund zur Aufgabe gewesen, und dann diese Jungfrau in Geleefarben … ›Er ringt mit ihr‹!
    Ich fühlte mich nun wieder wie der armseligste aller armen Müllerburschen, als ich die krumme Treppe hinabstieg, auf der unverändert das Licht brannte.
    Sophie kam mir mit dem Wäschekorb entgegen. »Nanu«, sagte sie, als sie mein Gesicht sah.
    »Kennen Sie mich?« sagte ich. »Ich bin Lionel.«
    Sie nickte, als hätte sie nichts anderes erwartet, und sagte: »Das trifft sich gut, dann helfen Sie mir doch mal die Wäsche auf den Boden tragen.«
    Auf dem Boden setzte sie sich auf eine Kiste und fragte: »Und sie hat Sie einfach gehen lassen?«
    »Ich komme aus einer Schlacht«, sagte ich, »und jetzt gehe ich in die nächste: Ich werde Ihrem Schlüssellochgucker sagen, daß er seinen Kurzschluß von jemand anders suchen lassen soll, von Schiller meinetwegen.«
    Sie lachte nur ein bißchen und fragte dann ernst: »Mit Ihrem Meister werden Sie Ärger kriegen, ja?«
    »Bestimmt. Aber daß ich den Fehler finde, hat er sowieso nicht erwartet. Schön wäre es trotzdem gewesen …«
    »Meinen Sie, daß Sie ihn gefunden hätten, wenn Sie hiergeblieben wären?«
    »Jeder könnte ihn finden, wenn er lange genug hierbliebe. Nur muß er Nerven haben. Ein Kurzschlußkommt nicht von allein, und was nicht von allein kommt, kann man finden.«
    Sie zupfte an den Strumpfringeln und sagte: »Ich glaube fast, morgen könnten Sie ihn finden.«
    Ich sah sie respektvoll an; sie hatte also doch die Finger in der Sache. Da sie das aber wohl kaum zugeben würde, sagte ich: »Ich will Ihnen mal reinen Wein einschenken. Es stimmt, man kann den Fehler finden, aber wie ich das allein machen soll, wo die anderen Meister schon das ganze Haus von unten nach oben umgekehrt haben, das weiß weder mein Alter noch ich.«
    »Die anderen
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