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Lebenschancen

Lebenschancen

Titel: Lebenschancen
Autoren: Steffen Mau
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Kriterium der nicht manuellen Tätigkeiten und der Beschäftigung im Dienstleistungssektor wird vielfach zur Abgrenzung genutzt, womit Arbeiter und Beschäftigte ohne qualifizierende
Berufsausbildung im produzierenden Sektor per definitionem von der Mittelschicht ausgeschlossen bleiben (ebd.). In dieser eher engen Definition können vor allem akademische Berufe wie Ärzte, Rechtsanwälte, Ingenieure, Apotheker, Lehrer, Journalisten, Wissenschaftler, mittlere und höhere Beamte sowie qualifizierte Angestellte in den Bereichen Handel, Geldwirtschaft, Versicherungen, Verwaltung, Information, öffentliche Dienstleistungen etc. zur Mittelschicht gezählt werden (Hradil/Schmidt 2007: 169). Ihr massives Wachstum ist vor allem auf den Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft und die damit einhergehende Aufwertung von Wissen und Bildung zurückzuführen. Paul Nolte und Dagmar Hilpert (2007) heben hervor, dass typische Mittelschichtberufe sich durch ein recht hohes Maß an Eigenverantwortung, Selbstständigkeit und Zeitautonomie auszeichnen. Menschen, die in solchen Berufen arbeiten, sind nicht einfach Befehlsempfänger in einem hierarchischen System, sie verfügen über größere Spielräume und Möglichkeiten der Selbststeuerung. Erfüllung im Beruf erfahren sie nicht ausschließlich durch materielle Zuwendungen, sondern auch aufgrund des Arbeitsumfelds sowie der Identifikation mit den Inhalten ihrer Arbeit.
    Man sieht, weshalb die Diskussion um die Abgrenzung der Mittelschicht sich ohne Weiteres mit aktuellen Debatten um die »Leistungsträger« der Gesellschaft und die sogenannte »neue Bürgerlichkeit« verknüpfen lässt. Durch diese Brille betrachtet, ist die Mitte vor allem der Ort der besser Qualifizierten, der beruflich Arrivierten, der gut Gebildeten, der selbstbestimmt Handelnden. Der Menschen, die für Leistungskraft und Innovation stehen. Verfechter der These von der neuen Bürgerlichkeit, Paul Nolte etwa oder Udo di Fabio, unterstellen zudem einen in der Mittelschicht verbreiteten Wertehorizont, der von Sekundärtugenden wie Fleiß und Höflichkeit, von Religiosität, Verantwortungsbewusstsein, Selbstständigkeit, Bildung, Familie und emotionaler Kontrolle geprägt ist. Ergänzen könnte man
noch einen Kanon kultivierter Umgangsformen (»den guten Ton«), öffentliches und zivilgesellschaftliches Engagement und ein Interesse an Hochkultur – »man« besucht eher Opernaufführungen oder Galerien als Musicals oder Vergnügungsparks. Ob zur Mitte nun tatsächlich vor allem diejenigen gehören, die ihr Leben subjektiv an einem Wertehorizont ausrichten, der sich »aus dem Erbe der Bürgerlichkeit ableitet« (Nolte/Hilpert 2007: 33), kann mit guten Gründen bezweifelt werden. Solche Thesen haben zwar breite publizistische Aufmerksamkeit erringen können, sind aber nicht empirisch gesättigt. Es ist wohl vor allem die Sehnsucht nach einer gehobenen, gut gebildeten und einem bürgerlichen Kanon verpflichteten Mittelschicht, welche in diesen Debatten Ausdruck findet. Nimmt man diese Zuschreibungen ernst, wäre die Mitte doch nicht viel mehr als ein modernisiertes Bürgertum der alten Art, ein Amalgam aus liberalem Wirtschaftsbürgertum einerseits und akademischem Bildungsbürgertum andererseits, zudem mit distinkter Kultur und Lebensführung. De facto kann man nur ein Fünftel der Bevölkerung einem solchen Begriff des Bürgertums zuordnen (Hradil/Schmidt 2007: 172), also weit weniger, als wir im Sinn haben, wenn wir von der Mittelschicht oder gar der Mittelschichtgesellschaft reden.
    Aus meiner Sicht bleibt dieser Blick auf die moderne Mittelschicht unvollständig, weil er größere Gruppen von Arbeitnehmern außen vor lässt. Ich habe es schon deutlich gemacht: Es gibt eine um die abhängige Erwerbsarbeit herum gruppierte »arbeitnehmerische Mitte« (Vogel 2009), die nicht notwendigerweise akademisch gebildet ist, sondern durch berufliche Ausbildung zur Mittelschicht aufschließt, also zum Beispiel Facharbeiter, mittlere Angestellte und Menschen in technischen Berufen. Sie erzielen mittlere Einkommen und erreichen damit einen durchschnittlichen Lebensstandard. Zum Teil arbeiten sie in der Industrie, teilweise aber auch im Dienstleistungssektor. Sie haben eine formalisierte Ausbildung durchlaufen und können diese auf
dem Arbeitsmarkt verwerten. Sie stehen im Hinblick auf Konsum, Wohnen und Freizeitaktivitäten irgendwo in der Mitte und können nicht einfach den unteren Schichten zugeschlagen
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