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Lebenschancen

Lebenschancen

Titel: Lebenschancen
Autoren: Steffen Mau
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war an der Verbreitung marktbasierter und individualisierter Formen des Sozialen nicht ganz unbeteiligt, geriet aber angesichts flexibilisierter Betriebsamkeit und kalter ökonomischer Leidenschaften zunehmend unter Druck. Statuspanik und Anpassungsstress haben zugenommen, dasselbe gilt für die Notwendigkeit, sich im gesellschaftlichen Positionsgefüge zu behaupten. Viele Menschen treibt die Sorge um, durch neue Gefährdungen in Nachteilslagen zu geraten, den gewohnten Wohlstand nicht halten oder den eigenen Kindern keinen Aufstieg ermöglichen zu können.
    Die Politik steht in dieser Situation vor einem Trilemma: Erstens muss sie sparen, um die öffentlichen Haushalte zu sanieren und dem Diktat der globalen Finanzmärkte zu entsprechen; zweitens scheut sie höhere Belastungen für die mobilen Wohlhabenden; und drittens sieht sie sich immer häufiger mit unzufriedenen Angehörigen der Mittelschicht konfrontiert, die ihre Bedürfnisse nach Sicherheit und gerechter Beteiligung am Wohlstand artikulieren.
    Wirksame Therapieansätze, um der wachsenden Verunsicherung zu begegnen, gibt es bislang kaum. Staatlich verordnete Gleichheit hat als Reformperspektive längst ausgedient. Die Antwort auf die Verunsicherung der Mittelschicht kann aber auch nicht darin bestehen, klientelistische Belohnungspolitiken aufzulegen. Wohltaten und Vollkaskoschutz für die Mitte – das wäre ein falsch verstandener Befriedungs- und Beruhigungsansatz, eine schlechte Medizin. Gegenüber sozialtherapeutischen An
sätzen, die Menschen auffordern, ihre »gelernte Hilflosigkeit« (Assar Lindbeck) zu überwinden, ist ebenfalls Skepsis geboten. Durch Appelle allein lässt sich die Freude am Risiko sicher nicht steigern. In dieser Gemengelage wird die Chancenverteilung zum wichtigsten Fixpunkt der Politik und der öffentlichen Debatte. Die entscheidenden Fragen lauten: Wie kann eine Gesellschaft, die immer mehr von Ungleichheit und Wettbewerb geprägt ist, dem individuellen Anspruch auf Lebenschancen noch gerecht werden? Und wie kann man die breite Mittelschicht für ein solches Unterfangen gewinnen?
    Den Begriff der Lebenschancen hat Ralf Dahrendorf 1979 in seinem gleichnamigen Buch genauer definiert und ausgearbeitet. Während Dahrendorf mithilfe dieses Konzeptes geschichtsphilosophische Überlegungen mit Fragen nach dem Fortschritt von Gesellschaften verband, nutze ich ihn in zeitdiagnostischer Absicht. Ich frage, wie es um den Zugang zu Lebenschancen bestellt ist und wie er verbessert werden kann. Lebenschancen als Modell der individuellen Entfaltung und Entwicklung verstehe ich als ein Angebot für alle gesellschaftlichen Gruppen – die Mittelschicht, die an den Rand Gedrängten und die oberen Schichten. Wir brauchen Instrumente, um der Tatsache zu begegnen, dass Chancen zunehmend ungleich verteilt sind, und zudem Angebote für die Benachteiligten, Ausgebremsten und Gestrauchelten. Wer in Kontexten sozialer Benachteiligung aufwächst, soll in seinen Entfaltungsmöglichkeiten nicht über die Maßen beschnitten werden; wer abrutscht, braucht alle Unterstützung, um wieder aufzustehen.
    Das politische Leitprinzip einer Maximierung von Lebenschancen kann für die Mittelschicht durchaus attraktiv sein. Es passt recht gut zu ihrem Leistungsethos, zur weitverbreiteten Wertschätzung für Anstrengung, Bildung und Qualifikation. Erst wenn Chancengerechtigkeit gewährleistet ist, ergibt es überhaupt einen Sinn, Leistung zum Maßstab vieler (natürlich nicht aller!) Dinge zu machen. Chancengerechtigkeit ist über
dies Grundvoraussetzung für individuelle Motivation und Aufstiegswillen, für den Ehrgeiz, aus Talenten und Anlagen das Beste zu machen. Doch weil die Grundlagen für den sozialen Wettbewerb und das individuelle Vorankommen nun mal in Institutionen (Schulen, Arbeitsmärkten, sozialen Sicherungssystemen) gelegt werden, müssen diese so gestaltet sein, dass alle Menschen möglichst die gleichen Startbedingungen haben, dass soziale Härten kompensiert und dauerhafte Benachteiligungen ausgeschlossen werden. Wenn es gelingt, Mobilitätskanäle (wieder) zu öffnen und die politischen Angebote zu verbessern, lässt sich vielleicht auch die beunruhigte Mittelschicht mitnehmen. Solche Offerten schaffen schließlich Spielraum nach oben und sie schließen jene Deprivationsfallen, welche den Menschen drohen, die aus der Mitte herausfallen.
    Dieses Buch bedient sich nicht der Form einer strengen wissenschaftlichen Monografie, ich will vielmehr versuchen,
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