Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lebenschancen

Lebenschancen

Titel: Lebenschancen
Autoren: Steffen Mau
Vom Netzwerk:
dem Luxus eines Schreibtisches in einem warmen Büro verbundenen Angestelltenexistenz stattgefunden. Einen Vorsprung an formaler Qualifikation gibt es nur noch im Hinblick auf mittlere und höhere Tätigkeiten. Viele Angestellte können daher nicht mehr von sich behaupten, »etwas Besseres« zu sein. Es gilt wohl: Beide Gruppen, die Arbeiter und die Angestellten, umarmen sich nicht, aber sie haben sich deutlich angenähert. Der heute gängige Terminus Arbeitnehmer, ein Globalbegriff für alle abhängig Beschäftigten, ist symptomatisch für die Aufweichung dieser Unterscheidung.
    Massenwohlstand und die Expansion der Mitte
    Der wichtigste Schub der Expansion des Gesellschaftssegments, welches wir heute als Mittelschicht oder Mitte bezeichnen, ereignete sich in der Nachkriegszeit. Mit dem Wachstum der Mitte sah die Gesellschaft nicht mehr aus wie eine Pyramide mit schmaler Spitze und breitem Fundament, sondern formte sich zu einer Zwiebel: schmale Spitze, sehr breite Mitte, stumpfe Spitze »unten«. So porträtierte der Soziologe Karl Martin Bolte (1966) jedenfalls die Bundesrepublik der sechziger Jahre. Noch heute dient die »Bolte-Zwiebel« als Anschauungsmaterial im Sozialkundeunterricht und prägt unsere Vorstellung einer gesellschaftlichen Rangordnung, in welcher die Mitte nach Zahl und Stellung eine dominante Rolle spielt. Das Wachstum in der Mitte ging vor allem auf ein Schrumpfen der unteren Soziallagen zurück. Im Gleichschritt mit Prozessen des gesellschaftlichen Wandels gelang vielen Menschen der soziale Aufstieg. Sie ließen ein Leben im Mangel hinter sich und erreichten einen materiell auskömmlichen, wenn auch oft bescheidenen Lebensstandard. Anschaulich lässt sich diese Veränderung am Beispiel der Klassen in deutschen Eisenbahnen nachvollziehen: Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in Preußen das Vier-Klassen-System eingeführt: Die erste und die zweite Klasse – Salonwagen und Coupés – waren für die gehobenen Stände reserviert, die dritte Klasse mit Holzbänken und ohne Abteile für das Proletariat, die Stehplätze (zunächst noch ohne Dach) in der vierten Klasse für die untersten Schichten und die Armen. Das Modell hielt sich ca. 70 Jahre, dann wurde in den zwanziger Jahren zunächst die vierte Klasse abgeschafft, Mitte der Fünfziger – im Zuge des Wirtschaftswunders und des Anwachsens der Mitte – schließlich die dritte oder »Holzklasse«. Heute sitzt das Gros der Bahnreisenden in der zweiten Klasse. Polstermöbel, Klimaanlage und Steckdose sind dort längst Standard, die Zeiten harter Sitze und ungeheizter Waggons sind vorbei.
    Das Wachstum der Mitte hat auch Helmut Schelsky mit seiner so berühmten wie umstrittenen These von der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« (1953) aufgegriffen. Schelsky ging davon aus, dass Vermögens- und Statusverluste durch Kriege und Inflation sowie die Qualifizierung der Arbeiterschaft, der Ausbau der sozialen Sicherungssysteme, erhöhte Mobilität und die größere Rolle von Konsum und Freizeit die Bedeutung der Klassenzugehörigkeit in der Bundesrepublik abschwächen würden. Das klang nach wohltuendem Ausgleich und einem satten Bauch der Mitte und war letztlich die Gegenthese zu einer Reihe populärer, marxistisch inspirierter Krisendiagnosen. Nicht Legitimationsprobleme, Spätkapitalismus oder antagonistische Klassenverhältnisse standen hier im Zentrum, sondern die Annahmen eines sich ausdehnenden Bereichs mittlerer Lagen und des Verschwindens des Klassenkonflikts. Mit der Dominanz der Mittelschicht entstehe ein neues »Sozialbewußtsein«, das die Spannung zwischen Oben und Unten abschwäche. Mittelständisches Sozialbewusstsein hieß für den Soziologen, »daß man sich in der Lage fühlt, in seinem Lebenszuschnitt an den materiellen und geistigen Gütern des Zivilisationskomforts teilzunehmen« (1953: 224). Diese Lesart nahm Abstand vom Modell der Polarisierung sozialer Klassen und postulierte die Entstehung einer nivellierten Gesellschaft, in der die Mittelschicht dominiert und Lebenslagen, Lebenschancen und Mentalitäten breiter Bevölkerungsgruppen immer weiter konvergieren.
    Ganz wesentlich für die Ausweitung der Mitte war der Wohlstandsboom der Nachkriegszeit. Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs dominierte zunächst in ganz Europa eine recht bescheidene Lebensweise, die auf die Sicherung elementarer Grundbedürfnisse ausgerichtet war: Nahrungsmittel, ein Dach über dem Kopf, anständige Kleidung – das waren die Dinge, auf
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher