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Lebenschancen

Lebenschancen

Titel: Lebenschancen
Autoren: Steffen Mau
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Vorwort
    Die Mittelschicht ist bis heute ein soziologisch weitgehend unerforschtes Terrain. Mittelschichtkundler finden sich vor allem unter den Literaten, die sich für die Brüche und Abgründe hinter den glänzenden Fassaden interessieren, weniger unter den Sozialforschern. Diese empfinden die saturierte Mitte oft als wenig aufregend. Die Mitte gilt als unbestimmt, wenn nicht gar undefinierbar. Auch die ideologischen Überhöhungen der Mitte stimmen viele Soziologen skeptisch. In der öffentlichen Debatte wird die Mittelschicht nämlich oft verhätschelt: Ihre Belange sollen im Zentrum politischer Bemühungen stehen, sie wird vor Wahlen umgarnt, Marktwirtschaftler sorgen sich um allerlei Lasten, die sie zu tragen hat, Familienpolitiker bemühen sich immer stärker um ihre »Qualitätskinder«, und Moralwächter beschwören ihre vermeintlichen Tugenden. Dabei ist die Mitte Objekt vieler Interessen und Zuschreibungen: Leistungsträger, besserverdienend, ausgleichendes Zentrum und Ruhepol, Stabilitätsanker und Wohlstandszone, Steuerzahler, Max und Erika Mustermann, gute Gesellschaft, Hort der bürgerlichen Werte, mediokre Masse, Träger des Gemeinwesens, Quell wirtschaftlicher Prosperität, Otto Normalverbraucher.
    In der Soziologie ist das Thema »Mitte« erst mit neuen Gefährdungen derselben aktuell geworden. Nachrichten zur sozialen und mentalen Lage der Mitte gelten dabei oft als wichtige Wasserstandsmeldungen für die Lage der Gesellschaft insgesamt. Die Bundesrepublik verstand sich lange Zeit als mittelschichtfreundliches Wohlstandsland, geprägt von hohem Lebensstandard und einem dicht geknüpften Sicherheitsnetz. Aus dem Rückspiegel betrachtet, war sie, so könnte man sagen, trotz Massenarbeitslosigkeit ein soziales Idyll. Unter materiellem Mangel, Abstiegserfahrungen und sozialer Exklusion schienen nur wenige zu leiden, die Mittelschicht jedenfalls nicht. Die Mehrheit konnte sich
in der Gewissheit wiegen, dass sie ihren Teil des Kuchens abbekommen würde. Zugang zu Lebenschancen, kollektiver Aufstieg und Wohlstand waren fester Bestandteil des Projekts eines gelingenden Lebens und nordeten bei vielen den inneren Kompass ein.
    Schien die Mitte bislang gegen größere Erschütterungen abgeschirmt, ja immunisiert zu sein, häufen sich seit einigen Jahren die Indizien dafür, dass der Wind sich gedreht haben könnte. Wohlstandswachstum und Aufstiegsgarantie können immer weniger als Standardprogramm der Mittelschichtexistenz gelten. Zwar ist die Lage der Mitte auch von konjunkturellen Zyklen abhängig, es gibt jedoch eine Reihe langfristiger Trends der gesellschaftlichen Restrukturierung, welche die Mitte als weniger stabil und gesichert erscheinen lassen als bisher. Das gilt für die Bundesrepublik, stellt sich aber noch dramatischer dar, wenn man in die USA , nach Südeuropa oder in einige Länder Westeuropas schaut. In vielen Staaten mit Marktwirtschaft und demokratischer Verfassung kann man durchaus von einer Krise der Mitte sprechen, und auch hierzulande sieht sich die Mittelschicht zunehmend in einer Lage, die von Prekarisierungsrisiken und Aufstiegsblockaden gekennzeichnet ist. Nicht alle diese Veränderungen sind dramatisch (einige schon!), aber für eine sicherheitsverwöhnte und statusorientierte Mitte halten sie grundlegende Irritationen bereit. Die Selbstgewissheit der Mittelklassen nimmt ab, die Wohlstandsfrage kehrt zurück und mit ihr das Thema der Verteilungsgerechtigkeit. Diese Verschiebungen innerhalb der sozialen Ordnung betreffen nicht allein die Mitte, sie scheint allerdings besonders nervös darauf zu reagieren.
    All diese Veränderungen vollziehen sich langsam und oft kaum spürbar. Es ist nicht so, dass eine große Welle auf den Strand zuläuft und die Sandburgen der Mittelschicht überflutet. Wir haben es vielmehr mit einer schleichenden Erosion zu tun. Die fast schon zu Mantras verkommenen Großtrends Globalisierung, Individualisierung, Liberalisierung und Privatisierung tragen
ebenso zur Verunsicherung der Mitte bei wie das Bröckeln des sozialdemokratischen Grundkonsenses, der Westdeutschland lange Zeit prägte. Mit dem Aufstieg des neoliberalen Projekts, das auch von Teilen der Mittelschicht begrüßt wurde, gerieten zugleich Werte wie Solidarität und die Verpflichtung auf das Gemeinwohl ins Wanken. Die Einkommensschere öffnete sich, die Vermarktlichung sozialer Lagen nahm Fahrt auf, die Gesellschaft verwandelte sich immer mehr in eine Wettbewerbsgesellschaft. Die Mittelschicht
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