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Lebenschancen

Lebenschancen

Titel: Lebenschancen
Autoren: Steffen Mau
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20. Jahrhundert von Mittelschicht. Mit dem Begriff des Mittelstands verbindet man auch heute noch spezifische produktive Funktionen in Industrie, Handwerk und Handel, während sich Mittelschicht stärker auf eine allgemeine Lebenslage bezieht.
    In der marxschen Theorie war eine Mitte nicht vorgesehen – sie blieb ein blinder Fleck. Zwar finden sich bei Marx reichhaltige Beschreibungen unterschiedlicher sozialer (Zwischen-)Lagen, etwa der Kleinbürger, Händler und Gewerbetreibenden, aber seine Lehre ging von zwei Hauptklassen aus, die die gesellschaftliche Entwicklung dominieren (Marx 1867): von Kapitalisten und Lohnarbeitern. Erstere besitzen das Kapital und die Produktionsmittel, also die Maschinen und Werkstätten, während die zweite Klasse nur die eigene Arbeitskraft besitzt und diese an die Kapitalisten verkaufen muss. Im Zuge der kapitalistischen Entwicklung, so die marxsche Annahme, werden einzig diese zwei Großklassen überleben. So prognostizierte er, dass das Kleinbürgertum allmählich zerrieben und proletarisiert werde. Dies sei eine Folge der Mechanisierung und Industrialisierung der Wirtschaft, die den Schuster an der Ecke überflüssig mache. Industrielle Fertigung verdränge den kleinen Handwerker und zwinge ihn, sein Geschäft aufzugeben und sich der Klasse der Lohnarbeiter anzuschließen. Karl Marx und Friedrich Engels gingen überdies davon aus, dass diese beiden, zunächst nur objektiv durch die Stellung zu den Produktionsmitteln be
stimmten Klassen, grundverschiedene Lebenswelten und Mentalitäten ausbilden würden. Engels schreibt in seinem Buch Die Lage der arbeitenden Klasse in England über diese Klassendichotomie:

    »Die Bourgeoisie hat mit allen andren Nationen der Erde mehr gemein als mit den Arbeitern, die dicht neben ihr wohnen. Die Arbeiter sprechen andre Dialekte, haben andre Ideen und Vorstellungen, andre Sitten und Sittenprinzipien, andre Religion und Politik als die Bourgeoisie.« (1972 [1845]: 351)

    Wie wir heute wissen, überstieg die Faszinationskraft dieses Entwurfs zum Teil seinen Realitätsgehalt. Recht hatte Marx aber mit der Annahme, dass zukünftig ein wachsender Teil der Bevölkerung von bezahlter Lohnarbeit leben werde. Diese Tendenz hielt lange an, und noch heute ist die abhängige Beschäftigung vorherrschend, selbst wenn inzwischen eine forcierte Zunahme bei den freien Berufen und Soloselbstständigen zu verzeichnen ist. Marx' Prognose, die mittleren Schichten würden im Zuge der sich zuspitzenden Klassenwidersprüche nahezu aufgelöst, hat sich dagegen nicht bewahrheitet. Das Überleben und die Ausweitung der Mittelschicht werden daher oft als Widerlegung der marxschen Verelendungsthese angesehen. Schon Ende des 19. Jahrhunderts nahm die Arbeiterschaft zahlenmäßig nicht weiter zu, was für die klassischen Arbeiterparteien auf dem Weg zu politischer Macht durchaus zum Problem wurde. Sie mussten sich, wollten sie an Stärke gewinnen, auch an die Gewerbetreibenden, die Händler, die Selbstständigen in der Landwirtschaft, die neue Gruppe der Angestellten sowie die kleineren und mittleren Beamten wenden. Diese Gruppen wurden zum wichtigsten Reservoir der sich ausdehnenden Mitte. Theodor Geiger, der wichtigste Sozialstrukturforscher der Weimarer Republik, sprach in diesem Sinne von der neuen Zwischenschicht der »Weder-Kapitalisten-noch-Proletarier« (1930: 637).
    Der klassische (alte) Mittelstand des späten 19. Jahrhunderts
gründete seine Stellung auf den Besitz von Kapital, Produktionsmitteln und Immobilien, allerdings ohne dabei ein größeres Heer an Arbeitern zu beschäftigen. Handwerker, Freiberufler sowie kleine und mittlere Familienunternehmer sind die charakteristischen Vertreter dieser Gruppe. Im Gegensatz dazu ist die Mittelschicht breiter. Sie umfasst zusätzlich die im letzten Jahrhundert schnell anwachsende Gruppe der Angestellten. Ähnlich wie die Arbeiter sind diese zwar in eine Hierarchie eingebunden, ihr Arbeitsplatz ist allerdings das Büro, nicht die Werkhalle (Lederer 1912). Selbst haben sich die Angestellten von Anfang an oberhalb der Arbeiterschaft positioniert, zumal unqualifizierte und einfache Tätigkeiten damals in diesem Bereich noch weniger verbreitet waren. Die Angestellten orientierten sich an den besseren Kreisen und distanzierten sich vom Arbeitermilieu, hingen also irgendwo dazwischen, so dass sie gelegentlich gar als »wesenlose Nicht-Klasse« bezeichnet wurden (Berger/Offe 1984).
    Eine erste Gesamtbeschreibung der sozialen
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