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Lebenschancen

Lebenschancen

Titel: Lebenschancen
Autoren: Steffen Mau
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Schichtung der deutschen Bevölkerung hat Theodor Geiger auf der Grundlage der Volkszählung des Jahres 1925 vorgenommen und in seiner Schrift Die soziale Schichtung des deutschen Volkes vorgelegt (1972 [1932]). Noch ohne Computer beugte sich Geiger über die umfangreichen Tabellen und addierte die Daten mit dem Rechenschieber, er sortierte die Gezählten nach bestimmten Kriterien, gewichtete und kombinierte unterschiedliche Charakteristika. Er orientierte sich dabei an »nach wahrnehmbaren Merkmalen ausgelesenen Existenzen, die für den Habitus prädestiniert sind« (1972 [1932]: 13). Geiger führte also objektive Merkmale wie die Stellung zu den Produktionsmitteln, die berufliche Position oder das Bildungsniveau mit subjektiven Faktoren wie Mentalitäten, Freizeitaktivitäten oder Geselligkeitsstilen zusammen, um die Ordnung und Lagerung der sozialen Schichten zu beschreiben.
    Auf diese Weise identifizierte Geiger schließlich fünf Schichten: die Kapitalisten (0,9 Prozent), den alten Mittelstand (kleine
und mittlere Selbstständige, 17,8 Prozent), den neuen Mittelstand (kleine und mittlere Beamte und Angestellte, 18 Prozent), die »Proletaroiden« (abgeglittene Angehörige des alten Mittelstandes sowie Tagwerker, 12,6 Prozent) und schließlich die große Gruppe der Arbeiterschaft (50,7 Prozent). Damals konnte Geiger noch behaupten, der neue Mittelstand der Gehaltsempfänger bleibe der Arbeiterschicht fremd, da letztere ihr wirtschaftliches Schicksal als kollektives verstehe, während der Angestellte versuche, »sich als Einzelner unter Verleugnung seines Standes Geltung zu verschaffen« (1987 [1932]: 488).
    Die deutliche Abgrenzung zwischen (neuem) Mittelstand und Arbeiterschaft hat sich im Lauf der Jahrzehnte abgeschwächt. Einerseits sind viele Arbeiterberufe aufgewertet worden und lassen sich nicht mehr als einfache manuelle Tätigkeiten beschreiben. Gleichzeitig distanzierten sich viele qualifizierte Arbeiter von proletarischen und unterschichttypischen Lebensstilen. Durch verbesserte Arbeitsbedingungen und Einkommenschancen sowie die Teilhabe an der Konsum- und Wohlstandswelt hat sich die Stellung der qualifizierten Arbeiterschaft über die Zeit erheblich verbessert. Um den damit verbundenen mentalen Wandel zu erfassen, sprechen manche Autoren daher auch vom »Wohlstandsarbeiter« (Goldthorpe/Lockwood 1970), der sich stark über Einkommens- und Konsuminteressen definiert. Die klassenkämpferische Pose wird von der Selbststilisierung durch Konsum abgelöst. Geiger selbst hat schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eine Steigerung des Lebensstandards der Arbeiter diagnostiziert, die sie an den Mittelstand bzw. die Mittelschicht heranführe:

    »Die marxistische Voraussage der Proletarisierung hat sich also nur bis zu einem gewissen Punkt erfüllt. Dann wendete sich der Strom. Heute ist von einer Proletarisierung des Mittelstands nicht mehr die Rede – und erhebliche Teile der Lohnarbeiterklasse sind obendrein zu mittelständischem Lebensstandard aufgestiegen.« (1949: 101 f.)

    Andererseits haben sich die Angestelltentätigkeiten massiv ausgeweitet und zugleich gewandelt: Immer mehr Angestellte hatten nun ebenfalls einfache und repetitive Aufgaben zu erledigen, sie wurden gleichsam deklassiert. Sie waren nicht länger durch den Arbeitsplatz im Büro »geadelt«, sondern gehörten jetzt auch zum Fußvolk des Wirtschaftsprozesses. In seiner Studie über die Angestellten, die zu den Klassikern der dokumentarischen Literatur zählt, geht Siegfried Kracauer von einer fortschreitenden Proletarisierung der Angestellten aus:

    »Aus den ehemaligen ›Unteroffizieren des Kapitals‹ ist ein stattliches Heer geworden, das in seinen Reihen mehr und mehr Gemeine zählt, die untereinander austauschbar geworden sind. […] Es hat sich eine industrielle Reservearmee der Angestellten gebildet. […] Ferner ist die Existenzunsicherheit gewachsen und die Aussicht auf Unabhängigkeit nahezu vollständig verschwunden. Kann demnach der Glaube aufrecht erhalten werden, daß die Angestelltenschaft so etwas wie ein ›neuer Mittelstand‹ sei?« (1971 [1929]: 12 f.)

    Diese Frage stellt sich heute angesichts der Ausweitung des Dienstleistungssektors im Bereich einfacher und zum Teil gering qualifizierter Tätigkeiten immer noch. Der Pförtner eines Krankenhauses oder die Bürokraft einer Autowerkstatt sind nicht automatisch der Mittelschicht zuzuordnen. Es hat also eine Ausdifferenzierung und teilweise sogar Abwertung der einstmals mit
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