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Lebenschancen

Lebenschancen

Titel: Lebenschancen
Autoren: Steffen Mau
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Befunde und Überlegungen zur Transformation der Mitte und zur Verbreitung neuer Unsicherheiten pointiert zu bündeln und zuzuspitzen. Es geht mir um einen empirisch informierten und kontrollierten Blick auf die soziale und mentale Lage der Mittelschicht. Wenn man nach gängigen soziologischen Kriterien selbst zur Mittelschicht gehört, ist die Distanz zum Gegenstand nicht immer gegeben. Es gibt da diesen Hang zur Nabelschau, der mich auch beim Schreiben dieses Buches hin und wieder beschäftigt hat. Insgesamt, so hoffe ich, mache ich mich aber weder zum Advokaten der Mittelschicht noch zum soziologischen Kritiker. Vielmehr möchte ich die Veränderungen, die sich in dieser gesellschaftlichen Zwischenschicht abspielen, mit wissenschaftlicher Neugier erkunden. Das Buch entwickelt seine Argumente vor allem durch ein Nebeneinanderlegen unterschiedlicher Mosaiksteine. In einer Zeit hoher wissenschaftlicher Spezialisierung stagniert die Kommunikation zwischen einzelnen Wissensfeldern fast völlig: Diejenigen, die etwas zur Bildung sagen können, kennen sich mit Gerechtigkeitsfragen kaum aus,
Familiensoziologen nicht mit dem Arbeitsmarkt. Einem komplexen Beobachtungsobjekt wie der Mittelschicht ist daher kaum beizukommen, wenn man die verschiedenen Befunde nicht zusammenspielt und ordnet. Eine sozusagen panoramische Perspektive ermöglicht es, die Entwicklung wesentlich umfassender darzustellen, als es empirische Einzelstudien je könnten.
    Der Leser wird merken, dass das Buch betont populär gehalten ist. Wo es mir im Sinne der Anschaulichkeit angebracht schien, habe ich stärker illustriert und mit dickerem Pinsel gemalt. Das Schlusskapitel stellt in gewisser Weise ein Wagnis dar: Ich versuche, die Idee der Lebenschancen als Antidot gegen blockierte Strukturen und neue Verwundbarkeiten ins Spiel und in die öffentliche Debatte zu bringen. Dass meinem Vorstoß bestimmte normative Vorstellungen darüber zugrunde liegen, wie Chancen und Ressourcen in einer Gesellschaft verteilt sein sollten, versteht sich von selbst. Auch wenn hier die Mittelschicht im Blickpunkt steht: Das Buch entwirft zugleich Reformperspektiven für die ganze Gesellschaft.

    Berlin, im März 2012

1. Mittelschicht: Leben in der Komfortzone
    Wer gehört eigentlich zur Mittelschicht? Ein Tatort benötigt nur einen Kameraschwenk, um uns in dieses Milieu zu entführen: Wir sehen ein Reihenhaus mit Vorgarten und Carport, davor ein paar Blumenkübel, Dahlien und Pfingstrosen, eine Fußmatte, auf der »Bitte Füße abtreten« steht – und sind im Bilde. In den Romanen Martin Walsers begegnet uns ein ganzes Mittelschichtkabinett: Susi Gern, Helmut und Sabine Halm, Gottlieb Zürn und die Kahns. Sie alle wandeln durch Wohlstandswelten und suchen dort ihr privates Glück.
    Der Begriff der Mitte ist unscharf, ja geradezu schwammig. Die Mitte befindet sich irgendwo zwischen Oben und Unten, ist eher eine sozialstrukturelle Zone denn ein abgeschlossenes Kollektiv. Es handelt sich im Grunde um einen Sammelbegriff, den all jene zur Selbstverortung nutzen, die sich weder der Ober- noch der Unterschicht zuordnen wollen (oder können). Die Mitte, das ist der Komfortbereich, angesiedelt unterhalb des Übermaßes an Privilegien und des ungefährdeten Wohlstands und oberhalb des Segments der begrenzten Lebenschancen. Weder Elitenloge noch Nachteilslage, sondern eben die Mitte: mittlerer Lebensstandard, mittleres Einkommen, Berufe in der Mitte der Gesellschaft – vom Facharbeiter bis zum Studienrat.
    Mittelstand und Mittelschicht
    Der Begriff der Mitte, wie wir ihn heute verwenden, ist im Prinzip eine recht junge Erfindung. Lange Zeit glich die Gesellschaft eher einer Pyramide, und das Verhältnis zwischen Spitze und Sockel bestimmte die soziale Dynamik. Noch bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts lebte die überwiegende Mehrheit der Menschen (je nach Schätzung zwischen 75 und 90 Prozent) in länd
lichen, von der Landwirtschaft geprägten Regionen, man rechnete den weitaus größten Teil der dort ansässigen Bevölkerung den unteren Schichten zu. Lediglich in den Städten, wo Handel und Gewerbe blühten, lag der Anteil der »Bürger« (Handwerker, Kaufleute usw.) höher. Allerdings gab es auch hier große Gruppen »unterbürgerlicher Existenzen«, beispielsweise Gesellen, Bedienstete und Tagelöhner (vgl. dazu Bolte/Hradil 1988: 80 ff.). Von Mitte war in der späten Ständegesellschaft selten die Rede, im 18. und 19. Jahrhundert sprach man eher vom Mittelstand, erst ab dem
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