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Lebenschancen

Lebenschancen

Titel: Lebenschancen
Autoren: Steffen Mau
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einen festen Platz hat, muss er sich in der wissenschaftlichen Diskussion gegen Konkurrenten wie Klassen oder soziale Lagen durchsetzen. Der Schichtbegriff bezieht sich auf Formen der vertikalen Ungleichheit, auf Hierarchien, ungleiche Lebensbedingungen und -chancen sowie auf dauerhafte Muster der sozialen Selektivität (Geißler 1996). Der Begriff Schicht und die Vorstellung einer »geschichteten« Gesellschaft sind nachweislich in den Köpfen der Menschen tief verankert. Wenn man sie danach fragt, rechnen sich fast alle einer bestimmten Schicht zu (Noll/Weick
2011), sie nehmen sich also als Teil einer Sozialstruktur mit einem erkennbaren Oben und einem erkennbaren Unten wahr. Obwohl der Begriff der Mittelschicht sehr eingängig und populär ist, ist es gar nicht so einfach, die einzelnen Schichten präzise voneinander abzugrenzen. Tatsächlich gibt es bis heute keine allgemein gültige und weithin akzeptierte Definition der Mitte. Wenn wir mit den üblichen Stereotypen arbeiten – er Oberstudienrat, sie Augenoptikerin, zwei Kinder, Haus mit Garten in Bremen-Schwachhausen –, ist die Sache schnell klar. Nehmen wir jedoch ein ungewöhnlicheres Beispiel, wird es gleich schwieriger: Wo verorten wir den gut verdienenden Parkettleger, der mit einer Vietnamesin ohne Ausbildung verheiratet ist? Oder den taxifahrenden Germanisten, dessen Freundin eine Anwaltskanzlei in Berlin-Schöneberg betreibt? Hier wird es schon unübersichtlicher. Außerdem ist die Mitte nicht stabil, es gibt Auf- und Abstiege. Manche Menschen schaffen den Anschluss an die Oberlagen, andere rutschen ab. Susi Gern aus Martin Walsers Der Lebenslauf der Liebe ist so ein Fall: Zu Beginn des Romans ist sie noch mit einem erfolgreichen Wirtschaftsanwalt verheiratet, der sich dann allerdings mehr und mehr seinen Gespielinnen zuwendet. Am Ende stehen die Pleite und der Umzug vom Penthouse in die vom Sozialamt bezahlte Einzimmerwohnung. Joseph Schumpeter, der große Ökonom, der es immerhin bis zum österreichischen Finanzminister brachte, hat Klassen und Schichten einmal mit Hotels und Omnibussen verglichen: Sie sind immer voll, aber immer mit unterschiedlichen Leuten. Das ist mit Sicherheit eine übertriebene Darstellung der sozialen Mobilität, so viel Bewegung wäre eine Anomalie und ließe die Ausformung einer geschichteten Sozialstruktur gar nicht zu. Die Annahme der Ultrastabilität wäre aber genauso weit von der Realität entfernt wie die Vorstellung eines anhaltenden Personenumschlags. Tatsächlich ist die Mitte der Gesellschaft relativ stabil: Es gibt Auf- und Abstiege, allerdings immer nur in Maßen.
    Wenn die Menschen auf der Straße von der Mittelschicht sprechen, dann haben sie einen gewissen materiellen Lebensstandard vor Augen. Man kann sich etwas leisten, aber eben nicht alles. Größere Anschaffungen müssen geplant und überdacht werden, kleinere lassen sich aus dem laufenden Einkommen finanzieren. Einige Ökonomen haben auch eine stabile und gut bezahlte Arbeitsstelle als »typisch Mittelschicht« definiert (Banerjee/Duflo 2008). In den USA , wo man nach wie vor von der middle class spricht, verbindet man diesen Begriff viel weniger mit der Vorstellung eines stabilen, klar abgegrenzten Stands. Als Mittelklasse gilt dort vor allem die große Gruppe der Einkommensbezieher, die sich an den Leitbildern des Konsums und des Wohlstands orientiert. Nach einer Definition der sogenannten »Middle Class Task Force«, die die Obama-Regierung im Jahr 2009 eingesetzt hat, um sich um die Belange der Mitte zu kümmern, gehört zur middle class , wer ein Auto hat, nach Wohneigentum, Urlaubsreisen, Altersvorsorge sowie Krankenversicherung strebt und Anstrengungen unternimmt, um den Kindern eine Hochschulausbildung zu ermöglichen (Middle Class Task Force 2010). Eine Definition, die tatsächlich nahe am Alltagsverständnis entlang operiert und wohl auch auf deutschen Straßen Kopfnicken hervorrufen würde.
    Der gesellschaftliche Kernbereich der Mittelschicht umfasst, wie schon angedeutet, zweifelsohne den alten Mittelstand (also Handwerker, Händler, Gewerbetreibende und Landwirte) sowie ein neues Segment der höher qualifizierten Angestellten, Beamten und Freiberuflern. Als wichtige Merkmale für die letztgenannte Gruppe gelten häufig eine qualifizierte Tätigkeit, vergleichsweise hohes berufliches Prestige, eine mittlere oder gehobene berufliche oder akademische Qualifikation, sicherer Status und gutes Einkommen (Werding/Müller 2007: 140). Auch das
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