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Leben macht Sinn

Leben macht Sinn

Titel: Leben macht Sinn
Autoren: Irmtraud Tarr
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Familie und die Großeltern gekocht hatte, und bevor ich einschlief, studierte ich theologische Texte, um meinen Mann zu unterstützen.« Allein ihr zuzuhören, machte reif für ein Nickerchen. Diesevon äußerer Aktivität verplante Lebensexistenz ließ überhaupt keinen Raum für die Wahrnehmung eigener Gefühle oder die Aufmerksamkeit spontaner Regungen. Erst ihre Hauterkrankung zwang diese Pfarrfrau dazu, sich mit sich selbst zu beschäftigen, die eigene Haut wahrzunehmen, zu berühren, einzucremen und endlich darüber nachzudenken, ob diese vielen Termine Sinn machten, oder ob die Termine sie beherrschten. Manche Lebenssituationen, die zu viele Zwänge und zu viel »Muss« enthalten, schmerzen oft bis ans Unerträgliche. Dennoch fällt es vielen schwer, sich aus der Situation fortzubewegen, sie zu verändern oder zu beenden. Manche spüren, dass sie sich auf einem Holzweg oder in einer Sackgasse befinden. Solange es geht, klammern sie sich sicherheitsbedürftig an das, was sie kennen. Aber ihnen fehlt der Mut, hinzuschauen und umzusetzen, was sie schon längst ahnen: Ich muss aufhören.
    Die Soziologin Marianne Gronemeyer hat ein Buch über die Kunst des Aufhörens geschrieben: »Genug ist genug«. Das erstaunt zunächst. Denn Kunst verlangt Hinwendung, Hingabe, Inspiration, Selbstdisziplin. Aber bei näherem Hinsehen entdeckt man, dass das Aufhören in der Tat eine Kunst ist, weil es genau das verlangt, was Künstler leisten: Auf-hören, Hinhören, Zuhören, Hingabe.
    Dies hängt mit der eindrucksvollen Doppeldeutigkeit des Wortes und der Praxis des Aufhörens zusammen. Aufhören im Sinne von »beenden, abschließen, nicht weitermachen« ist aufs engste mit dem Gehörsinn verbunden, mit dem Hören, dem Horchen, dem Lauschen und vielleicht sogar mit dem Gehorchen. Unsere Sprache lehrt uns also, dass wir nur aufhören können, wenn wir innehalten, wenn wir auf uns selbst, auf jemanden oder etwas hören. Die Kunst des Aufhörens besteht im Hören-Können. Um aufhören zu können, muss man hinhören und empfänglich sein.
    Eigentlich erleben wir es heute ständig. Unglaublich viel wird angefangen und möglichst schnell wird wieder damit aufgehört oder es wird fallen gelassen. Augenblickszwänge führen zu schnellen Anfängen und noch schnelleren Enden. Dennoch tun sich viele in ihrem persönlichen Leben schwer, Altes hinter sich zu lassen, umzukehren, aufzuhören und Neues zu wagen. Im Vergleich zum Beharren und Dranbleiben haftet dem Aufhören ein negativer Beigeschmack an. Man wird an Abschiednehmen erinnert, an Aufgeben, Verzicht oder Verlust. Warum sollte Aufhören eine Kunst sein? Haben wir nicht jahrzehntelang versucht, den alten Erziehungsidealen von Ausdauer, Durchhaltekraft und Beharrlichkeit gerecht zu werden?
    »Nicht aufgeben!« oder »Dranbleiben!« ist nur eine Seite des Lehrplans; sie setzt alles auf Willenskraft und Beharrlichkeit. Eine andere Seite wäre das Aufhören. Nicht im Sinne geschickter Spekulation auf Besseres oder als rascher Griff zur Bremse, sondern vielmehr als Abstandnehmen, Innehalten oder Freiwerden für neuen, besseren Sinn. Jedes Aufhören könnte, so verstanden, ein Aufbruch zu neuen Ufern – zu neuem Sinn – bedeuten.
    Wenn wir auf den Schienen der Gewohnheit durch das Leben gleiten, entgeht uns oft der Sinn dessen, was wir tun. Je stärker, eingefahrener die Gewohnheit, desto schwieriger wird es, sich wach zu halten für die Fragen: Was bewegt mich? Warum mache ich das eigentlich? Ist es noch stimmig, was ich tue? Heutzutage haben es Menschen schwer mit dem Aufhören, weil es Mut braucht und Veränderungen nach sich zieht. Aufhören zu viel zu trinken, zu essen, zu rauchen, zu joggen, zu shoppen, zu rasen, zu verschieben, zu vernachlässigen, zu streiten – wem fällt nicht zumindest eines davon schwer? Unsere private und unsere gesamtgesellschaftliche Situation spiegeln dieseProblematik wider: Trotz absehbarem Unheil wird immer weitergemacht. Ist es nicht eigenartig, dass wir zwar wissen, dass so vieles falsch läuft, aber dennoch weitermachen und nicht aufhören, zu schnelle Autos zu fahren, Wälder abzuholzen, die Erde mit Pestiziden zu vergiften, zu viel Wasser und Strom zu verbrauchen? Jeder kennt den Gedanken: Eigentlich müsste ich aufhören. Aber – ich allein? Das schaffe ich nicht. Die anderen machen sowieso alle weiter.
    Auch im privaten Raum häufen sich Probleme, weil Menschen entweder zu früh aufhören – Liebende, die voreilig einen Schlussstrich ziehen,
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