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Himmelsfern

Himmelsfern

Titel: Himmelsfern
Autoren: Jennifer Benkau
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    Â 
    Das Gefühl überkam mich flüchtig wie ein Déjà-vu von fallenden Federn und gleichzeitig drängend, als drücke eine Hand gegen meine Brust. Es packte nach mir, als ich in die U-Bahn steigen wollte.
    Nicht weitergehen.
    Ich verlangsamte meine Schritte, ohne im Strom der Menschen stehen zu bleiben. Wie Schafe trotteten wir in die U-Bahn. Jeder mit gesenktem Kopf, darauf bedacht, niemanden anzusehen und nicht aufzufallen. Man trat sich schnell zu nahe in dieser Stadt, besser man hielt erstens den Mund und zweitens ausreichend Abstand. Aber woher kam die Stimme? Mein Blick huschte über ein paar Gesichter, ausdruckslos, aber voller Falten – mehr als in den Fetzen der Bildzeitung, mit denen Obdachlose ihre Stammplätze polstern.
    Hatte überhaupt jemand mit mir gesprochen? Eigentlich hätte ich die Stimme gar nicht hören dürfen, denn aus meinen Kopfhörern dröhnte Musik aus den Achtzigern; Prince jaulte sein Purple Rain . Papa hatte mir den Mix zusammengestellt – eine Hommage an seine besten Jahre.
    Aber ich war sicher, etwas gehört zu haben …
    Meine innere Stimme sprach selten in ganzen Sätzen mit mir, meist beschränkte sie sich darauf, genüsslich zu seufzen, wenn Lukas sein Hemd offen ließ. Lukas und seine Band würden auf mich warten müssen, wenn ich die Bahn nicht nähme.
    Ich trat über die Lücke, die zwischen Bahnsteigkante und Türschwelle klaffte. Als Kind hatte ich mich immer gefürchtet, dort hineinzufallen. Während des Schrittes über den Abgrund, der noch heute größer als nötig ausfällt, hörte ich die Stimme erneut. Diesmal viel deutlicher.
    Nicht einsteigen! Nicht!
    Ich zupfte die Kopfhörer aus den Ohren, ließ Prince ungehört verhallen und lauschte.
    Nichts als die üblichen Bahnsteiggeräusche. Alles ganz normal. Und doch … Ein Kribbeln breitete sich zwischen meinen Schulterblättern aus. Zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich Blicke im Rücken. Ich wurde angesehen. Nein, fixiert. Unbehagen prickelte auf meiner Haut und grub sich in mein Fleisch. Es schlängelte sich um meine Wirbelsäule, bis ich mich fühlte wie unter Strom. Mich umzusehen fiel mir schwer, und als ich es tat, entdeckte ich nichts Verdächtiges. Ich reagierte à la Vogel Strauß, indem ich mein Handy aus der Handtasche kramte und ohne Interesse die letzten drei SMS durchlas. Wer auch immer mich angaffte – sollte er doch! Ich würde so tun, als bemerkte ich es nicht. Vielleicht verschwand er dann. Hoffentlich.
    Einen Moment später dachte ich bereits, mir alles nur eingebildet zu haben. Ich sah definitiv zu viel fern.
    Das Vinyl der Sitzbezüge knirschte, als ich mich auf einen freien Platz fallen ließ. Erst dadurch wurde ich mir der plötzlichen Ruhe bewusst. Auf dem Bahnsteig wuselten und schwatzten und stritten die Leute, aber im Abteil war es eigenartig still. Eine mollige, mit vielen Ketten und Medaillons behangene Frau, die gerade einsteigen wollte, fasste sich an den Kopf, als hätte sie etwas vergessen, wendete sich um und drängte sich wortlos an anderen Fahrgästen vorbei wieder nach draußen. Ich lehnte die Stirn gegen die kühle Fensterscheibe und sah, wie die Frau seltsam in sich gekehrt den Kopf schüttelte und sich bekreuzigte, bevor sie die Treppen hocheilte.
    Ein etwa einjähriges Kind in einem Buggy nahe der Tür lenkte meine Aufmerksamkeit auf sich, da es plötzlich mit einem derartig lauten Plärren die Stille zerriss, dass einige Leute zusammenzuckten. Eine sehr junge Frau, vermutlich die Mutter, versuchte es mit einem Schnuller zu beruhigen, doch das Kleine spuckte ihn aus und schrie noch schriller. Beschämt sah die Frau sich um und traf auf verständnislose und genervte Blicke. Sie zog den Kinderwagen kurzerhand mit ruckenden Bewegungen aus der Bahn. Die Türen schlossen sich hinter ihr und mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass ich ihr am liebsten gefolgt wäre. Wie albern.
    Ich drückte eine Handfläche an die Fensterscheibe und wünschte mich hinaus, in die warme, staubige Luft auf dem Bahnsteig. Doch dieser schien sich nun in Bewegung zu setzen. Er entfernte sich, während im Inneren des Abteils eingefrorene Stille und Bewegungslosigkeit herrschten.
    Ich ahnte, warum sie alle schweigend verharrten. Es war so deutlich, als stünde es in ihren Gesichtern geschrieben. Diese Stimme … sie hatten sie
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