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Himmelsfern

Himmelsfern

Titel: Himmelsfern
Autoren: Jennifer Benkau
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ich in diese verfluchte Bahn gestiegen bin. Seit man mich im Krankenhaus eingeliefert hatte und sich, abgesehen von dem winzigen Fernseher am anderen Ende des Zimmers, den Besuchen meines Vaters, den Anrufen meiner Mutter sowie der Gesellschaft der alten Dame im Bett neben mir, keine Ablenkung bot – von Zeitvertreib ganz zu schweigen –, ging mir eine Sache nicht mehr aus dem Sinn. Die Stimme. Die Stimme in meinem Kopf, die hatte verhindern wollen, dass ich in die U-Bahn stieg. Rosa hatte der nebulösen Ahnung, dass etwas da gewesen war, einen Namen gegeben: Schutzengel.
    Ich dachte den ganzen Tag an das blonde Haar des Mannes. Was blieb mir auch anderes übrig – außer seinem Haar und einem gewaltigen, blutenden Loch im Rücken hatte ich ja nichts von ihm gesehen.
    Konnte er etwas anderes sein als ein Mensch?
    Selbst während der Visite am nächsten Tag dachte ich an ihn. Der Oberarzt machte ein paar gutmütige Scherze, um mich aufzumuntern, und der Assistenzarzt erklärte mir, dass er meinem Vater bereits die Adressen einiger Psychologen gegeben hatte. Nach dem traumatischen Erlebnis sollte ich professionelle Hilfe bekommen. Ich hörte nur halbherzig zu. Meine Pläne lauteten, gleich am nächsten Tag in die U-Bahn zu steigen, dem Trauma damit die Stirn zu bieten und außerdem im gleichen Atemzug den Marsch zu blasen. Ich würde eine Bahn in die Innenstadt nehmen, zur Belohnung ein, zwei oder drei Eisbecher mit Schuss verputzen und wieder nach Hause fahren. Trauma? Abgehakt. Wenn man sich die Finger verbrennt, muss man das Poi-Training gleich wieder aufnehmen. Und zwar bevor sich die Angst eingenistet hat und Eier legt. In meinem Kopf waren keine Kapazitäten frei, um Angst zu empfinden.
    Ich lächelte und tat möglichst unbekümmert (aber auch nicht zu unbekümmert, so was wirkt verdächtig), als die Ärzte sich verabschiedeten. Artig versprach ich, meinen Vater zu grüßen, zum Therapeuten zu gehen und alles zu tun, was sie sonst noch von mir wollten, nur damit sie endlich verschwanden. Der Schwester, die mir am verständnisvollsten schien, steckte ich meine Handynummer zu, für den Fall, dass mein mysteriöser Retter doch noch auftauchen sollte. Sie versicherte, ihm die Nummer zu geben und mich zu informieren, dann ging auch sie.
    Zum ersten Mal nach dem Unfall war ich allein, denn meine Bettnachbarin ärgerte man gerade in der Physiotherapie. Immer noch geisterte Rosalias Bemerkung durch meinen Kopf. Und da ich endlich etwas Zeit für mich hatte, wagte ich, das Wort auszusprechen.
    Â»Schutzengel«, flüsterte ich. Erst kaum wahrnehmbar, dann etwas lauter. »Schutzengel. Habe ich einen Schutz–?«
    Ein heftiges Bollern an der Tür ließ mich zusammenfahren, dabei war mir sofort klar, wer da kam.
    Â»Hey, Papa!«
    Mein Vater grinste. Sehr breit, sehr herzlich – und sehr aufgesetzt. Er war aschfahl um die Nase. Seit er von dem Unglück erfahren hatte, sah er tatsächlich aus wie fünfundvierzig. Vorher hätte ihn jeder auf allenfalls Mitte dreißig geschätzt. Noch immer schien er zu befürchten, dass ich es mir anders überlegt haben und nachträglich tot umfallen könnte. Sorge stand ihm nicht, sie machte ihn alt und mir fremd.
    Â»Du könntest dir endlich mal angewöhnen, zu klopfen und die Klinke zu benutzen, statt jedes Mal fast die Tür einzuschlagen.«
    Â»Hat Frau Alte sich wieder beklagt?« Er linste misstrauisch in Richtung des Nachbarbettes und schien zufrieden, dass es leer war.
    Mir entwich ein grabestiefes Seufzen. »Sie heißt Frau Neue. Und ja, sie hat sich beklagt. Sie fällt immer fast aus dem Bett, wenn du klopfst. Außerdem mag sie deine Scherze nicht.«
    Was ihn natürlich nicht wunderte, trotzdem gab er ein »Verstehe ich nicht« von sich und sah mich dabei mit großen Augen an. Zweifellos wusste er, dass einer Achtzigjährigen Witze über von Dämonen besessene Gebissprothesen und Fußsprudelbäder mit Garfunktion nicht gefielen, schließlich besaß er ein Gehirn und arbeitete zudem als Altenpfleger. Außerhalb seiner Dienstzeiten konnte er allerdings der reinste Trampel sein, respektlos und unsensibel, aber er meinte es nie böse. Er war wie der Eismann, der hin und wieder in unsere Siedlung kam: Nach seiner Tour brauchte der nichts dringender als eine dreifache Portion heißer, salziger und fettiger Fritten.
    Â»Ich bin
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