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Himmelsfern

Himmelsfern

Titel: Himmelsfern
Autoren: Jennifer Benkau
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gegen das steinerne Vorderbein gelehnt. Immer noch bewegten sich seine Lippen, immer noch waren seine Augen geschlossen. Er sah erschöpft aus, seine Frustration strahlte beinahe sichtbar von ihm ab. Ich hätte mir das rechte Handgelenk auch noch verstauchen lassen, wenn ich als Gegenwert erfahren würde, was der Typ dort machte. Er tat mir irgendwie leid und das ärgerte mich, weil ich nicht wusste, warum.
    Er singt, überlegte ich. Ein Schwall Regenwasser rann mir aus den Haaren ins Top, lief mir den Rücken hinunter und ließ mich schaudern. Ich starrte ihn noch an, als wir bereits am Brunnen vorbei waren und obwohl Papa mich zur Eile rief. Mit verdrehtem Hals stieß ich fast mit einer Frau zusammen, die ihren Regenschirm so tief hielt, dass sie mich nicht hatte kommen sehen. Ein Blitz zuckte über den Himmel, der Donner krachte in der Ferne und schien zeitgleich zwischen den Häusern um den Marktplatz hindurchzurollen. Ich spürte den Hall unter meiner regennassen Haut.
    Â»Noa, mach schon!«, rief Papa.
    Ich lief schneller, drehte mich aber trotzdem noch einmal zum Brunnen um. Der Junge hatte jetzt den Kopf angehoben, sodass ihm der Regen ins Gesicht peitschte. Ungeachtet dessen öffnete er die Augen und sah mich an. Ich wollte rufen: Was machst du da?, tat es aber nicht. Stattdessen hob ich die Hand und winkte. Im nächsten Moment schalt ich mich, denn fremden Jungs zuzuwinken war absolut peinlich. War es das tatsächlich? Ich war mir nicht mehr sicher.
    Ich sah, wie der Junge die Faust hob, die Hand öffnete … um sich dann das Haar aus der Stirn zu streichen und an mir vorbeizublicken. Sein Gesicht war so gleichgültig, als wäre ich nichts weiter als ein Gegenstand, der ihm die Sicht versperrte. Ein ausgestreckter Mittelfinger wäre mir freundlicher erschienen. Mir schoss das Blut in die Wangen und ich wandte mich rasch ab. Wären damit alle Unsicherheiten bereinigt? Fremden Jungen zuzuwinken war peinlich.
    Â»Noa!«
    Â»Ich komme.« Und das tat ich, ohne mich noch einmal umzudrehen.
    Die Gegend, in der ich mit Papa wohnte, zeichnete sich durch vorherrschendes Grau aus. Graue, klotzförmige Mehrfamilienhäuser, graue Straßen und erschreckend viele graue Menschen. Menschen mit Gesichtern von der Art, für die sich jedes Lächeln zu schade ist, weil es an ihnen verschwendet wäre. Das bisschen Unkraut, das hin und wieder durch den Asphalt brach, wurde, sobald sich die ersten grünen Blättchen hervorwagten, von den angeleinten Hunden entdeckt, für die es eine Wohltat sein musste, ihr Geschäft auf einem Hauch von Grün zu verrichten. Das einfachste Viertel einer ohnehin einfachen Stadt, aber es bot ein paar entscheidende Vorteile.
    So grau es auf der einen Seite auch war – die Fenster unserer Schlafzimmer gingen nach hinten raus und dort lagen Schrebergärten. Nicht diese liebevoll gepflegten Anlagen voller Rosen, Himbeersträucher und geharkter Gemüsebeete, sondern brachliegende kleine Parzellen, getrennt von Brennnesseln, wuchernden Dornenhecken und rostenden Stacheldrähten. Nicht einmal die Hundebesitzer gingen dorthin. Die meisten mieden die Gärten, weil Obdachlose die wilden Brombeeren und sauren Äpfel holten und sich bei Nacht in den Lauben versteckten. Alle nannten sie verwahrlost und verkommen. In meinen Augen waren sie verwildert, was man mit wunderschön übersetzen konnte. Als Kinder hatten meine Freunde und ich Jahre gebraucht, sie zu erforschen, uns in jedem Gestrüpp zu verheddern, in die ein oder andere Wellblechhütte einzubrechen und alle Geheimnisse zu entwirren, die wir dort fanden.
    Ein weiterer Vorteil der Gegend war die geringe Miete. Mein Vater liebte seinen Beruf als Altenpfleger, aber er hasste sein Gehalt.
    Zuletzt waren da noch die Nachbarn und die waren ein besonders dicker Pluspunkt für unsere Siedlung. Rosalia wohnte im Haus gegenüber. Wir hatten uns früher oft aus den Fenstern im Treppenhaus über die Straße hinweg unterhalten, bis die Hausmeisterin sich über unser Geschrei beschwerte. In der Wohnung unter uns lebte eine alte Frau, die taub war und damit unsagbar sympathisch, weil sie sich nie an meiner Musik störte. Und Tür an Tür mit uns war kürzlich Frau Martin eingezogen, eine alleinstehende Mittdreißigerin, die sich ebenso wenig beklagte, weil sie meinen Musikgeschmack teilte. Von dieser Frau Martin fanden wir heute einen Zettel auf unserer
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