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Leben macht Sinn

Leben macht Sinn

Titel: Leben macht Sinn
Autoren: Irmtraud Tarr
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vorzudringen, verpasst ihn garantiert. Ohne Bindungen, Austausch, Mitgefühl, die man empfängt und gibt, kann keiner auf ein sinnreiches Leben schauen. Natürlich sind manche Menschen geselliger als andere, aber wer nur sein Auto, seinen PC oder sein Handy liebt, hat ganz offensichtlich eine Störung. Denn Menschen sind von Natur aus gesellig, um wachsen und gedeihen zu können. Um irgendwann vielleicht sogar über sich selbst hinauszuwachsen.
    Die Gefahr und Verführung ist, dass unter der Schicht der vielen täglichen Anforderungen und Verpflichtungen die Pflege unserer Beziehungen in den Hintergrund gerät und leidet. »Später, wenn ich mehr Zeit habe«, »wenn ich pensioniert bin«, »wenn ich mich in der neuen Firma eingearbeitet habe«, »wenn die Wohnung fertig eingerichtet ist« – so oder ähnlich lauten die Rechtfertigungen, Entschuldigungen, die alle eines übersehen: Beziehungspflege lässt sich nicht verschieben. Wir haben nur diese eine Familie, diese Freunde, diese Nachbarn und Bekannten, die zu uns gehören – und zwar »jetzt« – mit all ihren Vorzügen und Schwächen. Wir haben keine andere, bessere Option. So ist es und nicht anders. Das anzunehmen wäre der Anfang aller Weisheit. Vielleicht steht dann der Respekt mehr im Vordergrund, und es wird nicht mehr jedeenttäuschte Erwartung ausgeleuchtet, aber die Beziehungen werden lebbarer, weil man begriffen hat, sich das zu eigen zu machen, was nun einmal zu einem gehört.
    Ein chinesisches Sprichwort sagt: »Behandle deine Familie, als würdest du einen kleinen Fisch kochen.« Das ließe sich auf jede Form von Familie anwenden. Man fährt wahrscheinlich am besten, wenn man sich vorstellt, wie man einen kleinen Fisch kocht – nämlich ziemlich sanft. So wird er kostbar und genießbar – wie auch unsere Familie. Gleichzeitig verhindert Beziehungspflege ein zu einseitiges Bei-sich-selbst-Sein – die sogenannte Eigenbrötelei. Denn es wird als Ideal unserer Zeit proklamiert, dass man »bei sich« zu sein habe. Vielleicht ist es aber sinnvoller, mehr bei den anderen zu sein, die uns brauchen, da wir dann sie – und damit auch uns selbst – einfühlsamer verstehen würden. Es macht tiefen Sinn, nicht allein durch das Leben zu gehen, sondern einander Wegbegleitung zu geben und sie auch anzunehmen.
    Ich gebe zu, der gefährlichste Ort ist die Familie – schon rein kriminalstatistisch ließe sich das untermauern. Das hängt mit unseren Erwartungen zusammen. Wir erwarten zu viel voneinander, denn nahe, lang währende Beziehungen wecken unweigerlich frühe Sehnsüchte nach Geborgenheit und zugleich Wünsche nach Distanz und Abgrenzung. Enttäuschte Erwartungen stören die Beziehungsnähe, weil hineininterpretiert wird, weil man einander zu nahe kommt oder zu weit wegrückt, und weil man einander erdrückt im Haben-Wollen oder Geben-Müssen. Es gibt ein altes Gebet, in dem es heißt: »Herr, lehre uns, wann wir loslassen sollen.« Loslassen im Haben- und Geben-Müssen – das würde die Freude miteinander und aneinander freilegen. Sich miteinander freuen wäre die Entlastung, die die vielen Erwartungen, die wir an unsereNächsten haben, relativiert. Sich freuen (wenn das nicht gelingt, dann zumindest neugierig sein) ist eine Sache des Moments und vielleicht die sinnvollste, die das Leben schöner macht.
    Sie beginnt mit der Freundlichkeit. Leider ist sie heute bei vielen ins Abseits geraten, als wäre sie eine überflüssige Tugend. Dabei ist Freundlichkeit das Heilmittel schlechthin, nicht nur bei Spannungen oder Krisen, sondern weil sie Nähe und Ermutigung im täglichen Austausch schafft. Denken Sie an einen Menschen, den Sie mögen. Ist sie oder er ein unfreundlicher Mensch? Wir suchen doch gerade die Nähe zu denen, die durch ihr Auftreten Wärme, Charme und Offenheit verbreiten. Dass wir nicht auf Abstand gehen und frieren, sondern ihre Nähe genießen, hat doch damit zu tun, dass sie mit ihrem offenen, warmen Herzen anstecken. Neben ihnen fühlt man sich nicht allein. Das Herz wird weit, das Gesicht wird offen. Und beide fühlen sich sicher – der, der Freundlichkeit schenkt, und der, der sie empfängt.
    Ist das nicht eine Menge Sinn, wenn wir hier und heute unsere Freundlichkeit, Neugier und Ermutigung mit anderen kultivieren? Mit anderen freundlich zu leben, gehört zu den wertvollsten Gütern, die wir immer noch uneingeschränkt besitzen, und die durch Teilen sogar noch mehr werden. Jeder, der sie pflegt, atmet am Ende erleichtert auf:
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