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Leben macht Sinn

Leben macht Sinn

Titel: Leben macht Sinn
Autoren: Irmtraud Tarr
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Schüler, die ein schulisches Ende mit Schrecken provozieren – oder nicht aufhören können, weil sie trotz besserer Einsicht festhalten oder süchtig geworden sind. Man denke nur an die Geschichte vom zündelnden Paulinchen aus Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter, die trotz der Warnungen der beiden Katzen Miez und Maunz nicht aufhören konnte, mit dem Feuer zu spielen und am Ende verbrennt. Viele ahnen, dass sie auf einem Holzweg oder in die Sackgasse geraten sind, aber ihnen fehlen die Entschlossenheit und der Mut zum Aufhören.
    Es ist tatsächlich nicht einfach, aufzuhören, denn das setzt voraus, dass man hören will: »Ich wollte einfach nicht hören, weil ich es nicht wahrhaben wollte. Sogar die Andeutungen unseres Bankberaters habe ich einfach überhört. Bis ich durch einen Hotelbeleg wirklich gezwungen war, meinen Mann anzusprechen, um endlich zu hören, was geschehen war. All die Wochenenden, die er als berufliche Fortbildung ausgab, verbrachte er mit seiner Freundin in teuren Hotels.« Wie im Comicfilm, in dem die Beine über dem Abgrund immer noch rennen, verhielt sich diese Frau, als ob nichts geschehen wäre. Sie konnte erst mit ihrer Strategie des Nicht-wahrhaben-Wollens aufhören, als sie bereit war, hinzuschauen und hinzuhören.
    Aufhören kann aber auch eine aktive Handlung sein. Dabei denke ich an den Vater, der erkannte, dass seine Kinder von ihm öfter Schimpfnamen hörten als ihre eigenen Namen. Er realisierte, dass sie zu »Weghörern« wurden. Diese Einsicht schockierte ihn derart, dass er unter Einsatz seiner ganzen Willenskraft damit Schluss machte. Er sah ein, dass es sinnlos war, seine Kinder mit Aggression anzuspornen, und dass sie es auch nicht verdient hatten, ständig Opfer seiner Übellaune zu sein. Tatsächlich entspannte und lockerte sich sein Verhältnis zu den Kindern. Er entdeckte sogar eine neue Stärke in sich, er konnte besser zuhören, und das Missverstehen und Aneinander-Vorbeireden schrumpfte zunehmend, weil auch seine Kinder ihm wieder zuhören wollten.
    Neuen Sinn findet man, wenn man irgendwo aufhört. Eine Spielart davon ist das Aufgeben von schlechten Gewohnheiten, von übertriebenen Erwartungen oder schädigendem Verhalten. Zweifelsohne ist es eine respektable Leistung, wenn sich jemand überwindet und von einer Sucht fortwendet, um seine Aufmerksamkeit auf etwas Sinnvolleres zu richten. Die Kunst des Aufhörens liegt aber nicht nur darin, dieses oder jenes zu lassen, sondern sie besteht im Hören-Können auf die innere Weisheit. Manchmal spricht der eigene Körper: »Hör auf! Es macht keinen Sinn mehr.« Manchmal ist es das Gewissen, das mahnt: »Es ist genug!« »Basta!« Und manchmal ist es diese geheimnisvolle, innere Stimme, die weiß: »Ich könnte zwar ewig so weitermachen, aber ich will nicht mehr, weil es besseren Sinn für mich gibt.«
    Die Kunst besteht darin, wirklich innezuhalten und seine Sinne und seine Hingabe neu auszurichten. Auf etwas anderes, auf Besseres oder wie manche sagen: »auf höheren Sinn«. Für manche ist es das Gewissen, dieVernunft, Gott, Liebe, Freiheit. Wie auch immer Menschen es nennen mögen: Es geht darum, hinzuhören und seine Sinne zu öffnen, um dadurch neuen Sinn zu erfahren.
    Es gibt das erzwungene Aufhören. Der Schicksalsschlag, der tragische Autounfall, die Krebsdiagnose, die das Leben von einer Sekunde auf die andere radikal verändert, der berufliche Absturz, der einem erst einmal den Boden unter den Füßen wegzieht. Und es gibt das bewusste Aufhören. Zum Beispiel der Student, der auf den allabendlichen Kneipenbesuch verzichtet, weil er spürt, dass ihm diese zur Gewohnheit gewordene Ablenkung nicht mehr guttut. Und weil er realisiert, dass ihm ein erfolgreich bestandenes Examen langfristig wichtiger geworden ist. Sein Aufgeben hat eine interessante Doppeldeutigkeit: Er gibt etwas auf, weil er es als Aufgabe empfindet. Und er gibt etwas auf, weil er sich für eine neue Aufgabe frei machen will.
    Aufhören braucht nicht nur Willenskraft und Mut; gleichzeitig macht es auch Angst, weil es mit dem Tod assoziiert wird. Ein kleiner vorweggenommener Tod im Leben, weil man sich von etwas verabschiedet. Jedes Aufhören ist ein kleines Sterben, das schafft Berührungsangst. Wenn man das Aufhören aber nicht nur als Loslassen oder Hinter-sich-Lassen begreift, sondern als intensive Hinwendung zu neuem Sinn, dann könnte es als Inbegriff des Lebendigseins verstanden werden. Lebendig bin ich nur, wenn ich immer wieder neu hinhöre,
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