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Lauras Bildnis

Titel: Lauras Bildnis
Autoren: Henning Boetius
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im knossischen Labyrinth, nur daß es hier keine Jünglinge und Jungfrauen gab, die an den Stier des Minos verfüttert wurden. Es gab nur alte Leute, die ich nach dem Weg fragen konnte. Alle wirkten sie muffig und angegriffen von jener unheilbaren Auszehrung, die Dinge befällt, die man zu lange unter Luft- und Lichtabschluß hält. Die Auskunft war verwirrend einfach. »Gehen Sie geradeaus durch diese Tür, und dann durch den Sitzungssaal, immer geradeaus. Dann durch den zweiten Flur, über den Lichthof. Sie können nichts falsch machen, wenn Sie immer nur geradeaus gehen.«
    In der Tat glich der Weg zu meiner Werkstatt einem Irrgarten, den jemand an seinem Ein- und Ausgang gepackt hat, um ihn wie ein kompliziert gewickeltes Knäuel wieder geradezuziehen. Ich konnte mich wirklich nicht verlaufen, wenn es mir nur gelang, die einmal eingeschlagene Richtung beizubehalten, und dies ist, wie man weiß, so einfach, daß es kaum einem Menschen auf Anhieb gelingt.
    Ein im Gegensatz zu meiner Werkstatt wirklich schwer zu findender Raum war das Depot. Hierzu mußte man die richtigen Treppen steigen und um die richtigen Ecken gehen. So war es für mich anfangs ein Glück, daß man der Vorschrift nach nur zu zweit ins Depot gehen darf. Ich hatte immer einen der alteingesessenen Kollegen dabei, die diesen Weg im Schlaf zu finden schienen, während ich ihnen keineswegs so ohne weiteres zutrauen mochte, bei Tageslicht eine ganz normale Straße zu überqueren.
    Am liebsten arbeitete ich mit Dr. Labisch zusammen. Er ist das Musterbeispiel eines Museumsangestellten, Fachmann für das 19. Jahrhundert, eine Zeit, die wohl die schlechtesten Maler und die verderblichsten Bilder hervorgebracht hat.
    Damals wurde viel mit Asphalt als Untermalungsschicht gearbeitet, da sich so die goldbraunen Töne alter Meister imitieren lassen. Ein verhängnisvoller Weg. Denn Asphalt trocknet niemals vollständig durch. So kommt es, daß sich in den darüberliegenden Malschichten tiefe Schwundrisse bilden. Dies war Dr. Labischs ganzer Kummer. Die schlechten Bilder und ihr schlechter Zustand. Aber er widmete sich diesem Elend mit einer Hingabe, einer Liebe förmlich, die man nur als Versuch einer Sühne jener Verbrechen an der Malerei werten konnte.
    Dr. Labisch war selbst in einem schlechten Zustand, vergilbt und rissig wie seine Bilder. Er ging vornübergebeugt in einer Haltung, als könne er jeden Moment fallen. Sein großer blasser Mund seufzte beständig. Die Augen waren glanzlos, und die Pupillen zerflossen in der Iris, wie es bei minderwertigen Porträts oft der Fall ist.
    Das Wissen Dr. Labischs war ungeheuer. Aber es war sozusagen ein negatives Wissen. Er wußte alles über schlechte Malgründe, miserable Bindemittel, dilettantische Maler, die Fehler der im 19. Jahrhundert aufkommenden industriell hergestellten Leinwände. Sich mit Dr. Labisch längere Zeit zu unterhalten bedeutete, selbst unweigerlich in Depressionen zu verfallen. Unvorstellbar, daß dieser Mensch auch ein Leben außerhalb unseres Hauses führte. Unter freiem Himmel, in frischer Luft würde er vermutlich schnell an den natürlichen Klimasprüngen sterben. Hier aber konnte er ewig leben im Halbdunkel der Räume und der sorgfältig klimatisierten Innenluft.
    Am besten schien es ihm im Depot zu gehen. Dieser Raum tief im Inneren des Hauses verfügt über keinerlei natürliche Lichtquellen oder Außenwände. Er ist, wie ein guter Weinkeller, das ganze Jahr über fast gleichbleibend kühl und feucht. Hier hängen an großen Stahlgittern zahllose ausgerahmte Bilder. Es sind die Museumsleichen: Kunstwerke, die oft nicht schlecht sind, jedoch wiederum nicht gut genug, um andere Bilder aus den vollen Ausstellungsräumen verdrängen zu können. Es sind tragische Fälle darunter, nur wenig mißglückte Arbeiten berühmter Künstler oder hervorragende Leistungen nicht wirklich großer Maler. Bilder, die niemals aus dieser Krypta herausfinden werden. Die nie ein neugieriges Augenpaar mehr betrachten wird. Nur die Wissenschaftler und wir Restauratoren bekommen sie hin und wieder zu Gesicht. Aber wir sehen sie lieblos an, denn wir kennen ihre Mängel nur zu gut.
    Dr. Labisch machte da eine Ausnahme. Er sah seine Schäfchen mit der verbräunten und oft räudigen Wolle voller Mitleid und Anteilnahme an. Er archivierte sie und beschrieb sie langatmig in seinem Katalog, an dem er seit Jahren arbeitete oder vielleicht seit Jahrzehnten. Es war sein Lebenswerk: ein unlesbares Buch voller genauester
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