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Lauras Bildnis

Titel: Lauras Bildnis
Autoren: Henning Boetius
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grenzenlos langsam und grenzenlos schnell zu sein. Die Katze auf der hellen Steinmauer konnte er mit einer Kopfdrehung erfassen. Er nahm jede Bewegung des Tieres wahr, auch wenn sie noch in seiner Unbewegtheit verborgen war. Er sah, wie sich die grünen Augen mit den schwarzen Pupillenschlitzen vor der Sonne schlossen, wie die Vorderbeine sich aus der Wärme in eine kühlere Zone vortasteten und wieder zurückzogen. Nur sehr langsam hingegen ließ es sich die Straße zum Bäcker hinuntergehen, um ein Brot zu kaufen. Es galt, unter Millionen hellgrün leuchtender Platanenblätter hindurchzulaufen, und jedes einzelne war eines Blickes wert.
    »Ich muß wieder leben lernen«, dachte er, »wie ein kleines Kind das Laufen lernt. Schritt für Schritt, sich abstützend, greinend, wenn es sich stößt, lächelnd, wenn es vorankommt. Ich habe wohl alles falsch gemacht. Ich wollte auf Stelzen kriechen. Ich glaubte mich hoch über den Dingen und war doch weit unter ihnen. Ich wußte nicht einmal mehr, was Liebe ist. Vielleicht, weil ich es als Kind nicht lernen durfte. Offenbar liebte ich sehr. Doch es war eine kleine Liebe, bei Licht besehen. Zuviel Ängstlichkeit auf beiden Seiten und dazwischen viel Bedürftigkeit. Keine gute Mischung. Aber ich habe das Rauchen aufgegeben. Immerhin.«
    Er dachte an Lauras letzten Satz. »Ich werde das Rauchen aufgeben«, hatte sie beim Abschied gesagt. Und er war sich klar darüber, daß ihm keine andere Möglichkeit geblieben war, seinen alten Gefühlen nun in dieser Weise Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Irgendwo auf der Welt war sie jetzt und gab das Rauchen auf. Er tat es hier. Es war wie mit dem Mond, den zwei getrennte Liebende gleichzeitig ansehen, um sich auf diesem Weg einzubilden, sich nahe zu sein.
    Oben im Haus sprang der Kühlschrank von Madame Régusse an.
    Er schrak zusammen und veränderte seine Sitzhaltung. Er war empfindlich geworden gegen Nebengeräusche. Laute Geräusche kamen ihm hingegen unnatürlich gedämpft vor.
    Die Bank lag jetzt in der Sonne. Er ging mit seiner Tasse hinunter und setzte sich. Es war ein schönes Plätzchen, von der Straße aus nicht zu sehen. Hier saß er gerne und lange, nicht, um nachzudenken, sondern um sich von der Sonne ausbrennen zu lassen. Es war ihm eine neue Erfahrung, die Wärme so zu schätzen. Sie trocknete die Gedanken im Kopf ein, ohne dumm zu machen. Vielleicht konnte große Kälte das auch. Gedanken lebten wohl am besten bei gemäßigten Temperaturen, unter bedecktem Himmel.
    Der Mistral blies, und im Schatten war es bitterkalt. Aber der Himmel war vom Wind so klar, daß die Sonne hochsommerliche Kraft hatte.
    Er trank den Kaffee in kleinen Schlucken. Auch seine Geschmacksnerven waren unnatürlich geschärft. Er schmeckte Süße und Bitternis des Getränks wie zwei getrennte Körper, die sich eng umschlungen hielten. Dabei beobachtete er aus den Augenwinkeln eine Eidechse, die dicht neben ihm auf dem Mauerwerk hockte. Sie hatte den Kopf schiefgelegt und starrte ihn aus einem winzigen, schwarzen Auge an. Sie verhielt sich völlig regungslos. Ihr Körper hatte die Farbe der Steine und glich in seiner Bewegungslosigkeit eher einer Unebenheit der Mauer als einem Lebewesen. Nur das Auge paßte nicht zum Untergrund. Es hatte einen tödlichen Glanz.
    Auch er verhielt sich still. Er bewegte nur die Hand mit der Tasse, langsam, wie in Zeitlupe, um das Tier nicht zu verscheuchen. Als er vorsichtig den Kopf drehte, um es bequemer betrachten zu können, war es verschwunden. Es hatte sich in nichts aufgelöst. Nur das Nachbild des Auges glaubte er für einen Moment als kleinen weißen Fleck gegen den hellen Ocker der Steinmauer zu sehen. Wie konnte nur solche Schnelligkeit, der das menschliche Auge nicht zu folgen vermochte, aus einer derartigen Ruhe hervorgehen! Die Bewegungswechsel eines Warmblüters, einer Katze zum Beispiel, konnten auch extrem sein, aber sie wirkten im Vergleich mit dem Fluchtverhalten dieses Urwelttieres behäbig.
    »Sie ist ein leibhaftiges Oxymoron«, dachte er. »Mal heiß, mal kalt, mal erstarrt, mal voller Leben, mal Ruhe verströmend, mal schnell wie der Blitz. Sie ist wie meine Freundin Laura.«
    Daß er einen solchen Gedanken fassen konnte, bewies ihm, noch nicht lange genug in der Sonne gesessen zu haben. Er ging ins Haus und holte sich von Madame Régusse noch einen zweiten schwarzen Kaffee. Dann setzte er sich wieder auf die Bank, legte den Kopf schief und blinzelte in die Sonne. Bis auf die Trinkbewegungen
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