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Lauras Bildnis

Titel: Lauras Bildnis
Autoren: Henning Boetius
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zwischen Gras und Wasser
    er in deinem Angedenken und am Schmerz sich weidet.

Nahe bei dem Quell der dich beherbergt
    und der unsere Liebe uns gebar...’
    Sind das nicht klare Worte? Man muß sie nur zu lesen verstehen!«
    Monsieur Bazin hätte wohl am liebsten bei seinem Vortrag mit den Händen gefuchtelt, aber er mußte das Steuer festhalten, so heftig blies jetzt der Wind. Die Schneewände rechts und links der Straße wurden immer höher. Die Wärme der Sonne und die Kälte des Windes schienen sie in einem Zustand zu halten, bei dem Tauen und Frieren zugleich geschehen und die Oberfläche des Schnees mit einer Glasur versehen wird, die ihm die Schönheit eines Kunstwerks verleiht, Landschaften aus weißem, poliertem Marmor, vom Sonnengott und vom Gott des Windes modelliert.
    Kurz vor dem Gipfel hielten sie an. Die Straße war gesperrt. Sie stiegen auf der windabgewandten Seite des Wagens aus und kämpften sich tief gebückt und manchmal auf allen vieren zum Grat vor. Dort gab es Schneestangen, an denen sie sich festhalten konnten. Sie versuchten, nach Norden zu sehen. Die Gipfel der Alpen lagen im Sonnenlicht. Doch an der Kante des Gipfelgrats war der Schwall eisiger Luft, die von Norden heranflutete, so heftig, daß sie die tränenden Augen schließen mußten. So waren sie im Angesicht der schönsten Ferne blind. Bald spürten sie auch einen heftigen Schmerz an den Ohren und im Gesicht. Dann betäubte die Kälte, die Ursache des Schmerzes, ihre eigenen Folgen. Ihre Gesichter wurden starr und fühllos wie die von Statuen.
    Francesco versuchte, an Laura zu denken. Doch diesmal gelang es ihm nicht, sie aus der Ferne von Raum und Zeit zu holen. Später, im Auto, rieben sie sich die Gesichter mit Schnee, bis das Blut schmerzhaft in seine Gefäße zurückkehrte. Dann tranken sie den Rest des heißen Rotweins und machten sich auf den Rückweg.
    »Übrigens bewohnte Donna Laura in Avignon ein Zimmer, dessen eines Fenster nach Süden und dessen anderes nach Norden ging. Das eine empfing den warmen Strahl der Sonne, das andere den Eishauch des Windes vom Mont Ventoux. Ich vermute, wie Sie sich denken können, daß in diesem Zimmer das Porträt der Donna Laura entstand. Ich gäbe etwas darum, es sehen zu können. Doch vielleicht ist es besser, sich mit dem Gedanken zu trösten, daß es verloren ist und den Blicken der gefühllosen Stümper auf immer entzogen.« Monsieur Bazin seufzte und schwieg den Rest der Fahrt.
    Als sie in Fontaine waren, gingen sie direkt in die Bar Tabac. Sie waren wieder im Sommer gelandet und genossen es, ihren Durst mit Wasser und kühlem Wein zu stillen.
    »Woher wissen Sie, Monsieur, daß Petrarca sich heimlich mit Laura an der Quelle der Sorgue getroffen hat?«
    »Es liegt auf der Hand, wenn man sich die Situation klarmacht. Darüber hinaus habe ich jedoch einen echten Beweis. Niemand außer mir hat ihn gesehen. Vielleicht werden Sie der erste sein, den ich in mein Geheimnis einweihe. Dazu müssen Sie aber erst ruhiger werden, Francesco. Viel ruhiger.«
    Bazin legte seine Hand auf Francescos Unterarm. »Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Sie erzählen mir Ihre ganze Geschichte. Sie reden sie sich einfach von Leib und Seele. Vielleicht bringt Ihnen das Ihren Frieden wieder.«
    Bazin lehnte sich zurück und schnappte mit der Hand nach einer der zahllosen Fliegen, ohne sie jedoch zu erwischen. »Nur weil sie keinen Verstand und keine Seele haben, sind diese Biester so schnell. Ein ungeheurer Vorteil, wenn es ums Überleben geht.«
    »Aber weil sie dumm sind, gehen sie auf den Leim.«
    »Was halten Sie von meiner Idee, Francesco? Nur heraus mit der Sprache!«
    »Die ganze Geschichte?«
    »Den ganzen Bogen, vom Kennenlernen bis zur Trennung.«
    »Sie werden sich einige Zeit nehmen müssen. Es ist eine lange Geschichte, wenn auch der Dauer nach kurz. Kommen Sie zu mir? Eine Reihe von Abenden?«
    »Das möchte ich lieber nicht. Kein künstlicher Ort bei einer Geschichte voller künstlicher Gefühle. Erzählen Sie mir Ihre Affäre lieber an einem natürlichen Ort. In einem versteckten Winkel des Tales. Die Abende sind warm und schön. Die Felswände speichern das Sonnenlicht. Es ist ihre Form der Erinnerung an den Tag. Niemand wird uns stören. Sie werden nicht durch Zimmerwände verleitet, Ihre Geschichte zu verfälschen. In den Pausen wird es still sein. Wir werden nur die Zikaden und die Frösche hören. Die Zikaden sind zuständig für die Poesie, die Frösche aber für die Wirklichkeit.
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