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Lauras Bildnis

Titel: Lauras Bildnis
Autoren: Henning Boetius
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ratlos. Er spürte, daß die Umständlichkeit seiner Rede weniger mit den Schwierigkeiten zu tun hatte, sich in einem fremden Idiom ausdrücken zu müssen, als mit seiner Furcht, sich dem eigentlichen Gegenstand seines Erzählens zu nähern. Die Dunkelheit hinderte ihn, in den Gesichtern seiner beiden Zuhörer zu lesen. Monsieur Bazin und Madame Régusse schwiegen unerschütterlich. Es blieb Francesco nichts anderes übrig, als seinen Faden wiederaufzunehmen.
    »Ich arbeite seit fünf Jahren in einer Gemäldegalerie, deren Sammlung von einer beachtlichen Qualität ist. Ich darf sagen, daß ich Karriere gemacht habe. Ich verdanke sie einem Zufall. Als junger und unbekannter Restaurator, der gerade seine erste Stelle in einem Museum angetreten hatte, war ich Zeuge eines Säureattentates auf ein berühmtes Bild. Ich konnte nicht nur das Fehlverhalten der Aufseher verhindern, die oft unsachgemäß mit einem solchermaßen verletzten Werk umgehen, ich konnte auch den Täter festhalten. Es war eine junge Frau, die sich zwanghaft in die dargestellte Persönlichkeit verliebt hatte und durch ihr Attentat von dieser Fixierung offenbar loszukommen hoffte. Ich leitete die Erste-Hilfe-Maßnahmen, und mir wurde auch die langwierige und schwierige Restauration des furchtbar zugerichteten Gemäldes übertragen. Sie gelang so gut, daß ich fortan einen Namen in der Fachwelt hatte und die Museen sich um mich rissen.
    Ich entschied mich für die Galerie einer großen Stadt. Ich traf meine Wahl aus einem einzigen Grund: dem der Qualität der Exponate. Ich wollte in der Nähe der besten Bilder arbeiten. Ich nannte sie innerlich ‘meine Kinder’, und ich hatte das Gefühl, an ihrer Wahrheit teilzuhaben, wenn ich sie betreute und die Schäden beseitigte, die ihnen die Vergänglichkeit beibrachte. Heute denke ich, daß es mir um ein wenig geliehene Ewigkeit in den großen Kunstwerken ging.
    Das Gebäude, in dem ich arbeitete, hat eine eigentümlich bedrückende Atmosphäre. Es ist ein neoklassizistischer Bau von ungeheuerlichen Dimensionen. Betritt man ihn durch den Haupteingang, empfängt einen die breit ausladende Treppe und einiges an Dekor, an Säulen und Simsen, das die Erinnerung an das Äußere des Gebäudes aufrechterhält. Betritt man es jedoch, wie die Angestellten, durch einen Nebeneingang, fühlt man sich auf undefinierbare Weise im Stich gelassen. Die prunkvolle Fassade ist nicht nur verschwunden, sie ist gleichsam undenkbar geworden. Man fühlt sich in diesem kahlen, schlauchähnlichen Flur – in dem es bereits nach Lösungsmitteln riecht, obwohl es noch ein weiter Weg bis zu den Schränken ist, in denen solche Substanzen aufbewahrt werden – gefoppt und betrogen. Man hat das Gefühl, in einem gefälschten Raum zu sein. Ein Gebäude ohne Außenwände, eine optische Täuschung wie ein Spiegeltrick aus dem Varieté. Ein Mensch wird in der Kiste zersägt und geht hinterher unverletzt davon. So fühlte ich mich manchmal, wenn ich nach Dienstschluß unser Haus verließ.
    Ich hatte einen besonders weiten Weg durch das Labyrinth dieser Flure zurückzulegen, um in meine Werkstatt zu gelangen. Ich mußte viele schwere Eichentüren öffnen und aus Sicherheitsgründen sorgfältig wieder verschließen, um meinen Arbeitsplatz zu erreichen, den eine Reihe vom Staub fast blinder Bogenfenster erleuchtete. Ein jedesmal aufs neue irritierender Hinweis auf die unglaubliche Tatsache, daß dieser saalähnliche Raum nicht tief im Erdinnern, sondern hinter einer Außenmauer lag.
    Jedesmal, bevor ich zu arbeiten begann, mußte ich nach diesem Weg mit einem Zustand seelischer und körperlicher Erschöpfung kämpfen. Es kam vor, daß ich auf meinem Arbeitsstuhl einschlief und erst vom Läuten des Telefons erwachte. Dennoch kann ich nicht sagen, daß ich mich unwohl in meiner Werkstatt fühlte. Es war eine künstliche Welt, abgekapselt von der Wirklichkeit draußen. Dies hatte einen beschützenden Effekt. Wenn ich mich gesammelt hatte und mit meiner Arbeit begann, konnte ich mich hier besser konzentrieren und, wie mir schien, genauer über Probleme nachdenken als anderswo.
    Der Park vor meinen Fenstern wirkte ganz und gar irreal. Vielleicht war es die ewige Staubschicht auf dem Fensterglas, die ihm die Wirkung der räumlichen Tiefe raubte und ihn eher wie ein mittelmäßiges Bild mit stark gealtertem Firnis aussehen ließ.
    In den ersten Wochen nach meiner Anstellung habe ich mich oft verirrt in diesem Bau. Ich kam mir vor wie ein verwirrter Theseus
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