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Lauras Bildnis

Titel: Lauras Bildnis
Autoren: Henning Boetius
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Die Mischung wird eine gute Musik ergeben. Morgen, kurz nach Einbruch der Dämmerung, hole ich Sie ab. Und vergessen Sie die Flasche Rotwein nicht.«
    Bazin erhob sich und reichte Francesco die Hand. Der sagte: »Ich würde gern Madame Régusse mitbringen. Weibliche Ohren können bei meiner Beichte nicht schaden.«
    Bazin ließ seine Hand los und schüttelte den Kopf. Ein schmerzlicher Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, aber dann wandte er sich mit einer heftigen Bewegung ab und ging, für ihn ungewöhnlich, mit schnellen Schritten davon.

Erster Abend

    Es war nicht zu übersehen, daß Francesco sich schwertat, mit seiner Geschichte zu beginnen. Er rutschte auf dem Stein hin und her, auf dem er Platz genommen hatte, und trank hastig sein Glas leer.
    Vor ihm saßen zwei graue Schatten, die im Licht der Dämmerung mit der Felswand zu verschmelzen schienen. Der Abstand zwischen ihnen war so groß, wie es die Abmessungen der Höhle erlaubten. Madame Régusse saß halb abgewandt und blickte zum Höhleneingang hinaus. Bazin saß am tiefsten Punkt des Raumes. Er rauchte. Immer wenn er an seiner Zigarette sog, glühte sein Gesicht rötlich auf. Francesco sah, daß er die Augen geschlossen hielt. Es regnete. Vom Rand des Höhleneingangs hingen Tropfenschnüre. Frösche und Zikaden waren nicht zu hören.
    »Ich muß um Ihre Geduld bitten«, sagte Francesco. »Ich habe mir bisher noch nicht die Mühe gemacht, in meine Erinnerungen so etwas wie eine Ordnung zu bringen. Wahrscheinlich ist ein solcher Versuch auch unangemessen. Wenn ich mich meinem Gedächtnis anvertrauen soll, werde ich es bald mit Widersprüchen und Ungereimtheiten zu tun haben. Ich muß Sie genauso wie mich bitten, dies in Kauf zu nehmen. Schließlich gehört es zum Ethos meines Berufes, niemals die Subjektivität, die eigene Perspektive dominieren zu lassen. Ein Restaurator darf unter keinen Umständen in die originalen Teile eines Bildes eingreifen, mögen sie ihm auch wenig gelungen erscheinen. Niemals darf er die Retusche so weit treiben, daß sie die Aura des Gemäldes verfälscht.
    Wenn ich Ihnen meine Geschichte erzähle, ist dies ein Versuch, gegen das Vergessen anzukämpfen, gegen das Vergilben der Vergangenheit. Wie Sie wissen, bin ich Restaurator. Ich bin also in meiner gewohnten Rolle. Jemand, der gegen die Schäden ankämpft, die die Zeit einem alternden Bild zufügt.
    Ich habe Angst zu vergessen, Monsieur Bazin. Und ich habe zugleich Angst, meine Zeit mit Laura allzu frisch in Erinnerung zu behalten, Madame Régusse. Dies ist der Widerspruch, in dem ich mich seit meiner Trennung von Laura befinde.
    Ich denke, daß es zweierlei Formen des Vergessens gibt. Ein Geschehen kann in seiner Gesamtheit an Leuchtkraft verlieren. Man kann dies mit dem natürlichen Vergilben eines Firnisses vergleichen. Hiergegen hilft nur die mühselige Arbeit einer Firnisabnahme.
    Die zweite Form des Vergessens ist selektiv. Einzelne Bildpartien werden unterschiedlich geschädigt, manche verschwinden unter ungünstigen Umständen ganz und gar. Bei alten Gemälden sind hauptsächlich die dunklen Partien von solchem Totalverlust bedroht. In unserer Lebensgeschichte scheint es nicht anders zu sein. Um in solchen Fällen wenigstens den Gesamteindruck eines Bildes zu retten, müssen wir zu einem Mittel greifen, das ich die ‘integrierende Retusche’ nenne.
    Man geht dabei folgendermaßen vor: Die Fehlstellen eines Bildes werden konturenlos im Farbton ihrer Umgebung ausgemalt und auf diese Weise behutsam ins Bildganze integriert. Dies bedeutet, daß man gestaltendes Eingreifen, interpretierendes Erfinden vermeidet und dennoch das Kunstwerk als ganzes erfahrbar macht. Ähnlich werde ich bei meiner Geschichte vorgehen. Meinem Gedächtnis verlorengegangene Teile jener Zeit werde ich mir nicht neu ausdenken. Ich werde sie vielmehr so exakt wie möglich im Ton ihrer Umgebung einfärben und ihre Formen dabei verschwimmen lassen.
    Wenn Sie ein solchermaßen retuschiertes Bild aus einer gewissen Entfernung betrachten, werden Sie die Eingriffe des Restaurators nicht bemerken können. Sie werden überzeugt sein, es mit einem unbeschädigten Original zu tun zu haben. Ob mir mein Vorhaben gelingt, das zu beurteilen, überlasse ich Ihnen beiden, denn so, wie ich Sie zu kennen glaube, werden Sie sich weder durch ein Übermaß an Sympathie noch an Mißgunst zu einer Fehleinschätzung verleiten lassen.«
    Francesco hielt inne und wirkte ein wenig
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