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Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Titel: Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)
Autoren: Otto Dov Kulka
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Vater erforschte und interviewte – überwiegend hier in Israel, im gleißenden sengenden Licht dieses Landes – die Schattengestalten, die vor den Verbrennungsöfen vorbeigezogen waren. Eine der Fragen, oder Äußerungen, die in seinen Gesprächen mit ihnen stets wiederkehrten, war eine Variation der zahllosen Vorwürfe derer, die, schon dort, ihrem früheren Glauben abgeschworen hatten: »Es gibt also keinen Gott?« und: »Wenn doch, wo war Er damals und wie konnte Er zulassen, dass das, was über diese Generation hereinbrach, geschehen ist?« Und ähnliche Variationen der stechenden Wahrheit und ihrer Verwendung, wissentlich oder unwissentlich, im Rückblick auf jene Zeit und in der Zeit der »großen Lüge«, die dann folgte und bis auf den heutigen Tag Bestand hat.
    Diese Frage wurde dort von jenen gestellt, die zum »Sonderkommando« gehörten, denjenigen, die zu jener Zeit fragten, sprachen und schrieben, und einige ihrer Worte, die in der toddurchdrungenen Erde zu ihren Füßen begraben wurden, wurden uns überliefert.
    Mein Vater stellte diese Frage wiederholt und hartnäckig – fragte sie und andere seiner Zeitgenossen hier in den Interviews, die er aufzeichnete. So war es auch bei einem seiner letzten Aufenthalte im Bikur-Cholim-Krankenhaus, an der Kreuzung der Straßen Strauss und Nevi’im, als ich dabei war, ihn dort hingebracht hatte.
    Mit ihm im Krankenhauszimmer lag ein Mann von mächtiger Gestalt, und mächtig war auch die Ehrerbietung, die ihm seine Anhänger und Schüler erwiesen, die an seinen Lippen hingen und die ihren Rabbiner an seinem Krankenbett besuchten. Mein Vater begann, seinem Bettnachbarn, dem »großen Rabbiner«, der etwa in seinem Alter oder vielleicht etwas jünger war, mit seinen Fragen zuzusetzen – ohne jede Ehrfurcht, wie es seine Art war. Das war die Szene, die ich vor Augen hatte, als er ihn sinngemäß Folgendes fragte: »Wo wart ihr zu jener Zeit, was habt ihr getan [hier im Land Israel, da der Mann und seine Anhänger aussahen, als kämen sie aus dem nahe gelegenen, ultraorthodoxen Viertel Me’a Sche’arim], was habt ihr gefragt, falls ihr euch gefragt habt, und was habt ihr auf die Frage geantwortet: ›Wo war Gott?‹«
    Der schmerzgeplagte Rabbiner, der noch immer Macht und Autorität ausstrahlte, den Menschen verehrten (nicht so mein Vater), antwortete mit unverhohlenem Widerwillen. (Mein Vater sprach mit ihm Deutsch und glaubte mit gewisser Berechtigung, dass die Jiddisch sprechenden Ultraorthodoxen ihn verstehen; er fand immer einen Weg, ein Gespräch zu führen, in jeder Sprache und in jeder Situation.) »Ja, wir waren hier. Ja, auch zu jener Zeit. Aber diese Frage«, und das ließ er auch seine dort versammelten Anhänger wissen, »ist eine Frage, die man nicht stellen darf.« (Es ist verboten, sie über die Lippen kommen zu lassen, deute ich für mich. Es war verboten, sie damals zu stellen oder heute und – hier füge ich meine Interpretation hinzu – »bis in alle Ewigkeit«.) So war es dort im Krankenhaus, und ich war dabei.
    Aber so war es schließlich auch dort, in der Düsternis, die im Licht des Feuers aufzog, da waren die Schattengestalten, die vorbeizogen und Schriften hinterlassen hatten, die ich las, und auch mein Vater befragte sie und nahm sie auf, die von dort entronnen waren in das gleißende, sengende Licht dieses Landes.
    So hat er es mir erzählt, hier in seiner Wohnung im Jerusalemer Stadtviertel Kiryat Hayovel, in seinem mit Büchern vollgestopften Arbeitszimmer, das die Ordner mit den Transkriptionen der Tonbandaufnahmen sowie unzählige Tonbänder enthielt, die er aufgenommen hatte. All dies befindet sich nun in den Kellern des Archivs von Yad Vashem, unterhalb des Har HaZikaron, des Berges der Erinnerung:
    Die Sonderkommandos hatten einen jüdischen Kapo, oder vielleicht war er kein Kapo, aber ein stattlicher Mann mit der Autorität eines Thoragelehrten, den jeder als Lehrer, als Führer und als Fels in der Brandung ansah. [Ich stellte ihn mir als dunkle, massige Gestalt vor, einen »Fels in der Brandung«, meist wortkarg und schweigsam, der aber die Fragen seiner Verehrer und Kameraden in der Dunkelheit und im Licht der Verbrennungsöfen beantwortete.]
    Sie stellten ihm dieselben Fragen und auch diese Frage. Damals, zur Zeit der Metropole des Todes in ihrer »Glorie« – »Wo ist Gott?« – und weitere Variationen dieser Frage, die dort gestellt wurden, an diesem Ort der Wahrheit.
    Und der Rabbiner – der Kapo – der Lehrer –
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