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Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Titel: Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)
Autoren: Otto Dov Kulka
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nicht, was ich sie hätte fragen sollen. Das Licht und die Atmosphäre auf den Straßen ließen keinen Zweifel daran, dass der Krieg und das Regime endgültig vorbei waren, auch mir war das klar. Noch weit klarer aber war, dass das gar nichts mit mir und meiner existentiellen Situation zu tun hatte, weil ich noch immer – oder wieder – auf dem Weg zum Rathaus war und unter allen Umständen dorthin gelangen musste.
    Dann sehe ich, an einem der Kaffeehaustische, die sich entlang des Boulevards erstrecken, Livia Rothkirchen, eine alte Bekannte meines Vaters und von mir, eine ehemalige Mitarbeiterin in Yad Vashem und damals eine Bewohnerin der Landschaften der Metropole des Todes, die mich anstrahlt und freudig ruft: »Pane Kulka, Pane Kulka, vždyť to už je všechno pryč!« (»Herr Kulka, Herr Kulka, all das ist längst vorbei, ist vergangen, wissen Sie!«) Und ich wundere mich und bin verblüfft, oder vielleicht nicht verblüfft, aber doch ein wenig erstaunt darüber, was das damit zu tun hat, dass ich mich noch immer auf demselben Weg befinde und zu demselben Ort gehen muss und dass das, was drinnen geschieht, sich nach der Ordnung jenes Regimes vollzieht. Mir ist auch klar, dass dieses eiserne Tor sich am Ende für mich öffnen wird. Nur ein kleines Detail, es mag unbedeutend sein, aber es beschäftigt mich nachhaltig, verschließt sich unerbittlich jeder Klärung: Bedeutet die Vollstreckung des Urteils, das über mich gefällt wurde – nachdem ich eingetreten bin –, dass ich jenen Öfen bestimmt bin oder dem traditionellen Galgen, der sich zwar auf dem Rathausgelände befindet, aber außerhalb des Gebäudes selbst, auf einer Art Balkon oder oberem Hof auf dem Dach einer herausragenden niedrigeren Etage, die gegenüber der Altneuschul-Synagoge lag?
    So also habe ich den Traumverlauf rekonstruiert – Splitter, Fragmente, in groben Zügen ein Baustein nach dem anderen, doch stets mit einem Gefühl von Vollständigkeit und der klaren Gewissheit, dass Zeit oder die Veränderung der Zeiten weder eine Bedeutung hatte noch haben konnte. Lediglich der Schauplatz hatte sich verändert, verlagert und bewegte sich von der Metropole des Todes – Auschwitz – zur Metropole meines Geburtslandes – Prag.
    12 1942 errichtete das Naziregime in Prag das Jüdische Zentralmuseum mit der Absicht, die Erinnerung an eine ausgelöschte Rasse zu bewahren. Zu diesem Zweck wurden die Schätze jüdischer sakraler Gegenstände aus den liquidierten Gemeinden Böhmens und Mährens gesammelt. Mit dieser Arbeit waren die letzten damals in Prag verbliebenen Juden betraut. Vgl. Hana Volavková, A Story of the Jewish Museum in Prague , Prag 1968.

12

Doktor Mengele
eingefroren in der Zeit
    22. Januar 2001
    Den Traum hatte ich in der gestrigen Nacht, aber gestern, von morgens an und den ganzen Tag hindurch musste ich wegen des Vorhabens, meinem Vater eine Büste an einem öffentlichen Platz in Prag zu errichten, eine biografische Skizze über ihn zu Ende schreiben. Jetzt, im Morgengrauen, kehre ich zu dem Traum zurück, wie er aufstieg und sich in meiner Erinnerung erhalten hat.

    Abb. 43
    In jener Nacht also, in jenem Traum war ich wieder in Auschwitz, in einem der Krematorien. Genauer gesagt, in seinen Ruinen. Ich betrat den Traum durch diese Ruinen. Es waren die Ruinen des Krematoriums, das ich bei meiner Rückkehr nicht betreten hatte, sondern vor dem ich stehengeblieben war und dessen schwärzliche Überreste ich betrachtet hatte, aus denen wilde Sträucher und Unkraut wuchsen.
    Ich weiß nicht, wie ich hineinkam oder wie es überhaupt möglich war hineinzugelangen, aber ich ging hinein und befand mich im Krematorium. Vor meinen Augen erstreckte sich eine langgezogene Halle, ein Gebäude aus Beton, das nicht zerstört worden war und dessen desolater Zustand allein das Ergebnis jahrelanger Vernachlässigung war. Der Bau war ebenerdig und von Tageslicht durchflutet. Auch einen sehr langen Tisch gab es und Bänke aus ungeschliffenem Holz. Am Tisch saß eine Besuchergruppe, die einen Rundgang durch Auschwitz machte, allesamt Israelis, nicht jung, aber niemand von ihnen, so schien es mir zumindest, hatte damals Auschwitz miterlebt, in seinen »glorreichen« Tagen.
    Alle hörten aufmerksam den Ausführungen des ortskundigen Führers zu, der über die Anlage, ihre Funktionen und über das Lager sprach. Und dieser Führer, der seine Erläuterungen im Auftrag der gegenwärtigen polnischen Gedenkstättenleitung gab, war Doktor Mengele!
    Alle
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