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Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Titel: Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)
Autoren: Otto Dov Kulka
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einigen israelischen Wissenschaftlern teilnahm, organisiert von der Sektion für vergleichende Religionsgeschichte des Comité International des Sciences Historiques. Wir waren ein Mediävist, ein Experte für die Frühe Neuzeit und ich als Vertreter für die Moderne. Eigentlich hätte noch ein Historiker an dem Kongress teilnehmen sollen, den die Polen jedoch nicht ins Land ließen, weil er mit seiner Immigration nach Israel gleichsam sein Vaterland verraten hatte. Der Kongress verlief mehr oder weniger so, wie Historikerkongresse verlaufen. Mein Vortrag 3 brachte zwar grundlegend neue Ansätze und wurde auch ziemlich beachtet, doch das ging vorüber. Nach der Tagung organisierten die Veranstalter Ausflüge ins ganze Land, nach Lublin, Krakau und an andere schöne Orte, die sich für touristische Ausflüge anboten. Ich sagte meinen Kollegen, dass ich nicht mit ihnen fahren, sondern meine eigene Route wählen und Auschwitz besuchen werde. Gut. Ein Jude fährt Auschwitz besuchen, das ist nichts Außergewöhnliches, obschon es damals nicht so in Mode war, wie es das heute ist.
    Einer der Kollegen, der Mediävist – wir kennen uns schon ziemlich lange aus der akademischen Arbeit –, sagte zu mir: »Wenn du nach Auschwitz fährst, dann bleib nicht im Stammlager. Das ist so eine Art Museum. Wenn du schon hinfährst, dann geh nach Birkenau. Das ist das echte Auschwitz.« Er fragte mich nicht, ob ich irgendeine persönliche Verbindung dorthin habe. Wenn er gefragt hätte, hätte ich ihm geantwortet. Ich hätte es nicht geleugnet. Aber er fragte nicht, und so antwortete ich nicht und fuhr hin.
    Auf dem Weg entlang des Flusses der Zeit
    Ich wollte mit dem Zug fahren, konnte aber keine Fahrkarte bekommen. Deshalb nahm ich einen Flug nach Krakau und von dort ein Taxi, ein klappriges, ziemlich antikes Modell. Ich bat den Fahrer, nach Auschwitz zu fahren. Es war für ihn nicht das erste Mal; er hatte schon öfter ausländische Touristen dort hingefahren. Ich sprach Polnisch, und das gar nicht mal so schlecht, zum Teil noch von damals, zum anderen Teil bestand es aus dem, was ich in der Universität gelernt hatte, und auch meine tschechische Grundlage half mir dabei. Wir fuhren los, und der Fahrer plapperte in einem fort, erzählte, dass ihm sein Wagen gestohlen worden sei und er ihn wiederbekommen habe. Wir fuhren an dem Fluss Wisła entlang, und er erzählte von der »Wisła zła«, der »bösen Wisła«, die über die Ufer tritt, das Land überschwemmt und Mensch und Tier mit sich reißt. Wir fahren über mehr oder weniger asphaltierte Straßen, über Schlaglöcher, und nach und nach reagiere ich nicht mehr auf seine Worte. Ich nehme nicht mehr auf, was er sagt. Ich nehme vielmehr diesen Weg auf. Spüre plötzlich, dass ich an diesen Orten schon einmal gewesen bin. Ich kenne die Schilder. Diese Häuser.
    Obwohl es eine andere Landschaft gewesen war, eine nächtliche Winterlandschaft, vor allem in der ersten Nacht, aber dann auch eine Landschaft bei Tag, und ich verstand etwas, worauf ich nicht vorbereitet gewesen war: dass ich in der Gegenrichtung auf jener Straße fuhr, auf der man uns am 18. Januar 1945 und in den darauffolgenden Tagen hinausgeführt hatte, hinaus aus diesem unheimlichen Getriebe, aus dem, da war ich mir sicher, da waren wir uns alle sicher, es kein Entrinnen gab.
    Die nächtliche Reise vom 18. Januar 1945
    Jene Reise hat viele Facetten, doch vor allem eine Facette, vielleicht eine Farbe, eine nächtliche Farbe, die sich stärker als alles andere erhalten hat und alles andere übertrifft. Diese Intensität oder vielleicht besser diese nächtliche Farbe, die sich stärker als alles andere erhalten hat und alles andere übertrifft, steht für diese Reise, die man später »Todesmarsch« nannte. Es war ein Weg in die Freiheit, der uns aus jenen Toren hinausführte, von denen keiner zu denken gewagt hatte, dass wir dort je einmal herauskommen würden.
    Woran ich mich erinnere – im Grunde erinnere ich mich an alles von jener Reise –, aber das Eindrücklichste ist eben diese Farbe, diese nächtliche Farbe des um uns herum liegenden Schnees, die Farbe einer sehr langen, schwarzen Kolonne, die nur langsam vorankommt, und plötzlich – schwarze Flecken am Rand des Weges:

    Abb. 1
    Ein großer schwarzer Fleck und noch ein großer schwarzer Fleck und noch ein Fleck – erst war ich wie trunken von diesem blendenden Weiß, von dieser Freiheit, davon, dass wir das Terrain der Stacheldrahtzäune verlassen hatten,
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