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Land aus Glas

Land aus Glas

Titel: Land aus Glas
Autoren: Alessandro Baricco
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leidenschaftlich kreisen zu lassen und zu zwingen, damit es überall in ihr hinkam und rhythmisch in den Wahnsinn glitt, während sie nicht aufhörte zu weinen – falls man das einfach weinen nennen kann –, jedoch mit einer leisen und immer größeren Heftigkeit und vielleicht auch Wut, während Mr. Rail in dem sinnlosen und falschen Bemühen, sie zu bremsen, seine Hände in die Hüften dieser Frau grub, die seinen Schwanz in Besitz genommen hatte und ihm mit ungestümen Bewegungen all das aus dem Hirn riß, was nicht dem urwüchsigen Anspruch entsprach, mehr und immer noch mehr zu genießen. Sie hörte nicht auf zu weinen – und zu schweigen –, zu weinen und zu schweigen, auch nicht, als sie sah, wie dieser Mann unter ihr die Augen schloß und nichts mehr sah, und sie spürte, wie dieser Mann in ihr zwischen ihren Schenkeln kam, während er ihr mit jenem innigen, unergründlichen Stoß, den sie liebengelernt hatte wie keinen anderen Schmerz, hysterisch den Schwanz in den Schoß trieb.
    Erst danach – danach –, als Mr. Rail sie im Dämmerlicht betrachtete und, während er sie streichelte, sein Erstaunen zurückkehrte, sagte Jun: »Bitte, sag es niemandem!«
    »Das kann ich nicht, Jun. Mormy ist mein Sohn, ich will, daß er hier aufwächst, bei uns. Und alle sollen es wissen.«
    Jun verharrte, den Kopf ins Kissen vergraben, mit geschlossenen Augen.
    »Bitte sag niemandem, daß ich geweint habe.«
    Denn da war etwas zwischen diesen beiden, etwas, das wohl wirklich ein Geheimnis war, oder etwas Ähnliches. Daher war schwer zu verstehen, was sie sich sagten, wie sie lebten und wie sie waren. Man hätte sich bei dem Versuch, in manchen ihrer Handlungen einen Sinn zu erkennen, das Hirn zermartern können. Und man konnte jahraus jahrein warum fragen. Das einzige, was oft deutlich wurde, sogar fast immer, vielleicht wirklich immer, das einzige war, daß in dem, was sie taten, und in dem, was sie waren, – sozusagen – etwas Schönes lag. Einfach so. Alle sagten: »Es ist schön, was Mr. Rail da getan hat.« Oder: »Es ist schön, was Jun da getan hat.« Man verstand so gut wie nichts davon, aber wenigstens soviel verstand man. Zum Beispiel schickte Mr. Rail nie auch nur den kleinsten Brief oder die kleinste Nachricht von seinen Reisen nach Hause. Nie. Aber ein paar Tage, bevor er zurückkehrte, ließ er Jun unweigerlich ein kleines Päckchen zukommen. Sie öffnete es, und es lag ein Juwel darin.
    Nicht eine Zeile, nicht mal seine Unterschrift. Nur ein Juwel.
    Nun kann man tausend Gründe finden, um so was zu erklären, angefangen natürlich mit dem naheliegendsten, also damit, daß Mr. Rail etwas hatte, weshalb er um Verzeihung bitten mußte, und dies folgerichtig tat, wie alle Männer es tun, nämlich indem er zur Brieftasche griff. Da nun aber Mr. Rail kein Mann wie alle anderen war und Jun auch keine Frau wie alle anderen, wurde eine solche logische Erklärung meistens zugunsten phantasievollerer Mutmaßungen verworfen, die geheimnisvollen Diamantenschmuggel, symbolische esoterische Bedeutungen, altertümliche Traditionen und poetische Liebesgeschichten großartig zusammenmischten. Die Feststellung, daß Jun die Juwelen, die sie bekam, niemals, aber auch niemals trug und sie sich nicht einmal sonderlich dafür zu interessieren schien, machte das Ganze nicht einfacher. Sie verwendete statt dessen eine grenzenlose Sorgfalt darauf, die Kästchen aufzubewahren, sie regelmäßig abzustauben und darauf zu achten, daß niemand sie von dem Platz nahm, den sie ihnen zugedacht hatte. So daß diese Kästchen Jahre nach ihrem Tod noch immer ordentlich übereinandergestapelt an ihrem Fleck standen, so sinnlos und leer, daß es viel Fleiß kostete, die. dazugehörigen Juwelen zu suchen, viele Tage und sogar Wochen lang, bis klar wurde, daß man sie nie, nie und nimmer, finden würde. Kurz, man konnte die Sache mit den Juwelen drehen und wenden, wie man wollte, aber eine endgültige Erklärung würde man nicht finden. So kam es, daß die Leute, wenn Mr. Rail zurückkehrte, fragten: »Ist das Juwel gekommen?«, und jemand antwortete: »Offenbar ja, offenbar ist es vor fünf Tagen gekommen, in einem grünen Kästchen«, und dann lächelten die Leute und dachten bei sich: »Es ist schön, was Mr. Rail da tut.« Denn mehr konnte man nicht sagen als diese winzige, unermeßlich große Kleinigkeit. Daß es schön war.
    So waren Mr. und Mrs. Rail.
    So sonderbar, daß man dachte, irgendein Geheimnis müsse sie verbinden.
    Und so war
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