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Land aus Glas

Land aus Glas

Titel: Land aus Glas
Autoren: Alessandro Baricco
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Anblick eines Pfeils, der irgendwohin zeigt, sein, als sähe er der Unendlichkeit ins Gesicht. Egal, was dort sein mochte, es war jedenfalls Leben – und kein Gefängnis. Darum blieb ihm dieser Name tief im Gedächtnis. Als er rauskam, hatte er ein anderes Gesicht. Er war alt geworden. Aber ich hatte auf ihn gewartet. Ich sagte ihm, daß ich ihn wie früher liebte und daß wir ganz von vorn anfangen würden. Aber es war nicht so einfach, aus diesem ganzen Scheißdreck herauszukommen. Das Elend saß einem im Nakken, es ließ einen nicht eine Sekunde aus den Augen. Wir waren praktisch zusammen aufgewachsen, ich und Tool, in diesem wunderbaren Scheißviertel. Als wir klein waren, wohnten wir Tür an Tür. Wir hatten uns ein langes Papprohr gebastelt, und abends beugten wir uns aus dem Fenster und sprachen hinein. Wir erzählten uns unsere Geheimnisse. Wenn wir keine hatten, erfanden wir welche. Kurz, es war unsere eigene Welt. Für immer und ewig. Als Tool aus dem Gefängnis kam, arbeitete er auf einer etwas ungewöhnlichen Baustelle. Sie verlegte Eisenbahnschienen. Eine komische Sache. Ich arbeitete im Kaufhaus, bei Andersson. Dann starb der Alte, und alles ging zum Teufel. Es ist albern, aber am liebsten wäre ich Sängerin geworden. Ich habe eine schöne Stimme. Ich hätte in einem Chor singen können oder in einem dieser Lokale, in denen die Reichen etwas trinken und den Abend damit verbringen, Zigaretten zu rauchen. Aber so was gab es nicht bei uns. Tool erzählte, sein Großvater sei Kapellmeister gewesen. Er habe Instrumente erfunden, die es zuvor gar nicht gegeben hatte. Aber ich weiß nicht, ob das stimmt. Er war tot, sein Großvater. Ich hatte ihn nie gesehen. Und Tool auch nicht. Tool sagte auch, daß er mal reich sein würde, daß wir mit dem Zug ans Meer fahren würden, wo wir uns die abfahrenden Schiffe ansehen könnten. Aber dann blieb alles beim alten, und alles ging seinen gewohnten Trott. Manchmal war es entsetzlich. Wir flüchteten uns nach Quinnipak, aber nicht einmal das funktionierte mehr. Tool litt sehr darunter. Er bekam ein Gesicht, das einem Angst einjagte. Es war, als hasse er die ganze Welt. Trotzdem war es ein wunderschönes Gesicht. Ich suchte mir Arbeit im Viertel der Reichen. Ich arbeitete als Köchin bei einem, der sein Geld mit Versicherungen gemacht hatte. Eine einzige Sauerei auch da. Er betatschte mich vor den Augen seiner Frau. Direkt vor seiner Frau, nicht zu fassen. Aber ich konnte nicht weg. Sie zahlten. Sie zahlten sogar gut. Dann eines Tages starb einer, der Marius Jobbard hieß, und sie sagten, Tool hätte ihn umgebracht. Als die Polizei kam, war Tool bei mir. Sie verhafteten ihn und nahmen ihn mit. Er sah mich an und sagte zwei Dinge: Du bist viel zu schön für das alles hier. Und dann: Wir sehen uns in Quinnipak. Ich weiß nicht, ob er ihn wirklich umgebracht hat. Ich habe ihn nie danach gefragt. Was spielte das schon für eine Rolle? Der Richter entschied jedenfalls, daß er es gewesen sei. Seine Verurteilung stand sogar in der Zeitung. Ich erinnere mich daran, weil in der Meldung daneben von einem riesigen Glaspalast die Rede war, der, ich weiß nicht mehr wo, in der Nacht zuvor vollkommen abgebrannt war. Und ich dachte: Heute soll offenbar alles in Rauch aufgehen. Alles zum Teufel. Ich habe Tool noch ein paarmal gesehen. Ich besuchte ihn im Gefängnis. Dann habe ich es nicht mehr ausgehalten. Er war nicht mehr derselbe. Er sagte die ganze Zeit kein Wort und sah mich nur an. Er starrte mich wie gebannt an. Er hatte wunderschöne Augen. Tool. Aber er machte mir angst, wenn er mich so ansah. Ich konnte nicht mehr hingehen. Ich suchte ihn manchmal in Quinnipak, aber auch da fand ich ihn nicht mehr. Es war aus. Es war wirklich aus. Darum habe ich beschlossen wegzugehen. Weiß der Himmel, wo ich die Kraft dazu hergenommen habe. Aber eines Tages habe ich einen Koffer vollgepackt und bin gegangen. Eine Freundin von mir hat mich mit Kapitän Abegg bekanntgemacht. Er sagte, auf der anderen Seite des Ozeans sei alles anders. Da bin ich abgereist. Mein Vater sagte nichts. Meine Mutter weinte, Schluß aus. Nur Elena hat mich bis ans Ende der Straße gebracht. Elena ist ein kleines Mädchen, sie ist acht Jahre alt. »Warum läufst du weg?« hat sie mich gefragt. »Ich weiß nicht.« Elena, ich weiß nicht, warum ich weglaufe. Aber ich werde es verstehen. Mit der Zeit, mit jedem Tag mehr, werde ich es verstehen. »Sagst du mir Bescheid, wenn du es verstanden hast?« – »Ja.« Ich
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