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Land aus Glas

Land aus Glas

Titel: Land aus Glas
Autoren: Alessandro Baricco
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… Aber statt dessen nichts, nichts kommt heraus. Kann man schlimmer beschaffen sein?
     
    Zu Pekischs Begräbnis hatten die Leute von Quinnipak einer gewissen Logik folgend beschlossen, keine einzige Note zu spielen. In einem wunderbaren Schweigen zog der Holzsarg auf den Schultern der tiefsten Oktave des Humanophons durch das Städtchen und hinauf zum Friedhof. »Möge dir die Erde so leicht sein, wie du für sie warst«, betete Pater Obry. Und die Erde antwortete: »Amen.«

4
     
    … so daß sie, Seite für Seite, zur letzten kam. Sie las langsam.
    Neben ihr starrte eine uralte Frau mit den Augen einer Blinden vor sich hin und hörte zu.
    Sie las die letzten Zeilen.
    Sie las das letzte Wort.
    Und das letzte Wort war: Amerika.
    Schweigen.
    »Mach weiter, Jun. Hast du Lust?«
    Jun schaute von dem Buch auf. Vor ihr lagen kilometerweit Berge, dann ein Felsenriff und das Meer, dann ein Strand, dann ein Wald nach dem anderen, dann eine lange Ebene und eine Straße, dann Quinnipak, dann Mr. Rails Haus und darin Mr. Rail.
    Sie klappte das Buch zu.
    Sie drehte es um.
    Sie schlug es auf der ersten Seite auf und sagte:
    »Ja.«
    Aber ohne Traurigkeit. Man muß es sich ohne Traurigkeit gesprochen vorstellen.
    »Ja.«

 
Sieben
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
    … wenn ein Glückliches fällt.

Ozeandampfer Atlas
    14. Februar 1922
     
    Die ersten Male zog sich Kapitän Abegg die Uniform aus, und wir schliefen zusammen. Er traf mich auf der Brücke, lächelte mich an, und ich ging in die Kajüte hinunter. Nach einer Weile kam er. Wenn wir fertig waren, blieb er manchmal noch da. Er erzählte mir von sich. Er fragte mich, ob ich etwas brauche. Jetzt ist das anders. Er kommt herein und zieht sich nicht einmal mehr aus. Er greift mir unter die Kleider, um sich in Stimmung zu bringen, dann muß ich mich aufs Bett setzen, und er knöpft sich die Hosen auf. Er bleibt vor mir stehen. Er masturbiert, und dann steckt er ihn mir in den Mund. Es wäre nicht so ekelhaft, wenn er wenigstens ruhig dabei wäre. Aber er muß was sagen. Er wird ihm schlaff, wenn er nichts sagt. »Du Nutte, das gefällt dir, was? Na los, blas mir einen, du widerliche Schlampe, steck ihn dir in den Hals, los, damit du was von ihm hast, du blöde Nutte.« Weiß der Himmel, was so toll daran ist, die Frau, die dir gerade einen bläst, als Nutte zu bezeichnen. Was soll das? Ich weiß selbst, daß ich eine Nutte bin. Es gibt viele Arten, den Ozean zu überqueren, ohne die Fahrkarte zu bezahlen. Ich habe mich dafür entschieden, am Schwanz von Kapitän Charlus Abegg zu lutschen. Ein fairer Tausch. Er kriegt meinen Körper, ich kriege eine Kabine auf seinem verfluchten Schiff. Früher oder später kommen wir an, und alles ist vorbei. Diese ganze widerliche Scheiße. Schließlich kommt es ihm. Er stößt so was wie alberne kleine Schreie aus und füllt mir den Mund mit Sperma. Er schmeckt grauenhaft. Tool schmeckte anders. Er hatte einen angenehmen Geschmack, seinen Geschmack. Außerdem liebte er mich, und er war Tool. Also stehe ich auf und gehe raus, um alles ms Klo zu spucken, wobei ich versuche, nicht zu kotzen. Manchmal ist der Kapitän schon weg, wenn ich zurückkomme. Ohne ein Wort. Dann denke ich: »Es ist vorbei, für diesmal ist es vorbei«, krieche ins Bett und gehe nach Quinnipak. Das hat mir Tool beigebracht. Nach Quinnipak zu gehen, in Quinnipak zu schlafen, nach Quinnipak zu flüchten. Von Zeit zu Zeit fragte ich ihn: »Wo bist du gewesen, alle haben dich gesucht.« Und er sagte: »Ich war auf einen Sprung in Quinnipak.« Es ist wie ein Spiel. Es hilft, wenn dich der Ekel übermannt und es keine Chance gibt, ihn loszuwerden. Dann verkriechst du dich irgendwo, machst die Augen zu und fängst an, dir Geschichten auszudenken. Was dir gerade einfällt. Aber du mußt es gut machen. Mit allem Drum und Dran. Auch mit dem, was die Leute sagen, und mit den Farben und den Geräuschen. Mit allem. So verschwindet der Ekel allmählich. Danach kommt er wieder, das ist klar, aber in der Zwischenzeit hast du ihn für eine Weile ausgetrickst. Als sie Tool das erstemal erwischten, brachten sie ihn in einem Polizeiwagen ins Gefängnis. Da war ein kleines Fenster drin. Tool hatte Angst vor dem Gefängnis. Er sah hinaus und hatte das Gefühl, zu sterben. Sie fuhren über eine Kreuzung, und am Straßenrand war ein Pfeil, der ein Städtchen anzeigte. Dort las Tool diesen Namen: Quinnipak. Für einen, der auf dem Weg ins Gefängnis ist, muß der
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