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Land aus Glas

Land aus Glas

Titel: Land aus Glas
Autoren: Alessandro Baricco
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dasselbe Leben sein, auch für sie nicht. Der lebensgroße heilige Thomas aus Holz ging für eine beachtliche Summe an einen Mann mit fettigem Haar und gewiß schwerem Atem. Der Schreibtisch war lange von zwei Herren umkämpft, die offenbar unsterblich in ihn verliebt waren. Das Rennen machte der ältere, dessen stumpfsinniges Profil von vornherein ausschloß, daß ihm ein Schreibtisch wirklich von Nutzen sein könnte. Das chinesische Porzellanservice ging an eine Dame, deren Mund die Vorstellung, eine Tasse aus diesem Service zu sein, grauenhaft erscheinen ließ. Die Sammlung alter Waffen wurde von einem Ausländer übernommen, der sie nützlicherweise an sich selbst hätte anwenden können. Der große blaue Teppich aus dem Eßzimmer ging an einen harmlosen Herren, der aus Versehen im falschen Moment bestätigend die Hand gehoben hatte. Die scharlachrote dormeuse sollte künftig den Schlaf eines Fräuleins behüten, das ihren Verlobten und alle Anwesenden hatte wissen lassen, daß sie »dieses komische Bett« um jeden Preis haben wollte. Kurz, sie wurden in alle Welt verstreut, all die Teile von Mr. Rails Geschichte: um andere Trostlosigkeiten zu bevölkern. Es war keine schöne Szene. Etwa so, als würde man zusehen, wie das eigene Haus geplündert wird, aber in Zeitlupe und bestens organisiert. Unerschütterlich auf seinem Platz in der letzten Reihe, nahm Mr. Rail mit dem sonderbaren Gefühl von all diesen Dingen Abschied, daß das Leben – langsam – an ihm zehrte. Er hätte nach einer Weile eigentlich auch gehen können. Doch er wartete auf etwas. Und dieses Etwas kam.
    »Meine Herrschaften, in den vielen Jahren meiner bescheidenen Berufsausübung hatte ich noch nie, nie zuvor die Ehre, etwas zu versteigern …«
    Mr. Rail schloß die Augen.
    »… in dem sich die Schönheit der Form mit der Genialität der Idee verbindet …«
    Wenn er doch nur schnell machte!
    »… ein wahres Liebhaberstück, ein wertvolles Zeugnis vaterländischen Fortschritts …«
    Wenn er doch nur schnell machte und es vorbei wäre!
    »… eine richtige, echte und immer noch intakte Lokomotive.«
    Na endlich.
    Den Streit um Elisabeth besorgten ein unerträglich lispelnder Baron und ein alter Herr von bescheidenem und beliebigem Aussehen. Der Baron fuchtelte mit seinem Spazierstock in der Luft herum und betonte seine Gebote mit einem feierlichen Ernst, der endgültig klingen sollte. Gewissenhaft erhöhte der alte Herr mit dem beliebigen Aussehen das Gebot jedesmal um eine Winzigkeit und verursachte damit beim Baron und seinem entourage eine offenkundige Gereiztheit. Mr. Rails Augen wanderten von einem zum anderen, wobei sie jede noch so kleine Nuance dieses außergewöhnlichen Duells aufsogen. Zur sichtlichen Befriedigung des Auktionars zeichnete sich keine Entscheidung des Zweikampfes ab. Die beiden hätten noch stundenlang so weitermachen können. Sie wurden von der unvermuteten Klarheit einer Frauenstimme unterbrochen, die mit der Sicherheit eines Befehls und mit der Sanftheit einer Bitte erklang.
    »Zehntausend.«
    Dem Baron hatte es vor Staunen die Sprache verschlagen. Der alte Herr mit dem beliebigen Aussehen senkte den Blick. Hinten im Saal stand eine mit prächtiger Eleganz gekleidete Dame und wiederholte: »Zehntausend.«
    Der Versteigerer schien aus einer unerklärlichen Verzauberung zu erwachen. Er schlug die Zahl etwas hastig und einigermaßen unsicher, was die Verfahrensweise betraf, dreimal hintereinander. Dann murmelte er in das allgemeine Schweigen hinein: »Verkauft.«
    Die Dame lächelte, drehte sich um und verließ den Saal.
    Mr. Rail hatte sie nicht einmal angesehen. Doch er wußte, daß er diese Stimme nicht so leicht vergessen würde. Er dachte: »Vielleicht heißt sie Elisabeth. Vielleicht ist sie wunderschön.« Dann dachte er nichts mehr. Er blieb bis zum Schluß im Saal, doch mit erloschenem Geist und in den Armen einer unvermittelten, samtweichen Müdigkeit. Als alles vorbei war, stand er auf, nahm Hut und Stock und ließ sich zur Kutsche hinausbegleiten. Beim Einsteigen sah er eine mit prächtiger Eleganz gekleidete Dame auf ihn zukommen. Ihr Gesicht war mit einem Schleier verhüllt. Sie gab ihm einen großen Briefumschlag und sagte: »Von einem gemeinsamen Freund.«
    Dann lächelte sie und ging fort.
    In der Kutsche, die mit viel Geruckel aus der Stadt hinausfuhr, öffnete Mr. Rail den Umschlag. Es steckte der Kaufvertrag für Elisabeth darin. Und eine Karte mit einem einzigen Wort.
    Ausgetrickst!
    Und einer
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