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Land aus Glas

Land aus Glas

Titel: Land aus Glas
Autoren: Alessandro Baricco
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Niemand hatte ihn je schreiben oder einen Brief erhalten sehen. Er schien einer zu sein, der aus dem Nichts gekommen war. Die absolute Unergründlichkeit seiner Existenz wurde von genau einem außergewöhnlichen und nicht unbedeutenden Riß durchzogen: Man fand ihn in regelmäßigen Abständen zusammengekauert in einem versteckten Winkel des Hospitals, mit unkenntlichem Gesicht und einem Singsang, der halblaut über seine Lippen kam. Dieser Singsang bestand aus der unermüdlichen, demütigenden Wiederholung eines einzigen Wortes: »Hilfe.«
    Das geschah zwei-, dreimal im Jahr, öfter nicht. Etwa zehn Tage lang blieb der Assistent in einem Zustand harmloser, doch vollkommener Teilnahmslosigkeit gegenüber allem und jedem. Die Schwestern waren dazu übergegangen, ihm in diesen Tagen die grau und braun gestreifte Uniform anzuziehen. Wenn der Anfall vorbei war, kehrte der Assistent zu einer höchst vertrauenerweckenden und uneingeschränkten Normalität zurück. Er zog sich die Streifenuniform aus und trug wieder den weißen Kittel, in dem ihn alle für gewöhnlich im Hospital herumlaufen sahen. Er nahm sein Leben wieder auf, als sei nichts gewesen.
    Jahrelang fristete der Assistent in fleißiger Entsagung dieses besondere Leben, das friedlich über der hauchdünnen Grenzlinie pendelte, die den weißen Kittel von der Streifenuniform trennte. Das Pendel seines Rätsels hatte aufgehört, Erstaunen auszulösen, und arbeitete nun still eine Zeit ab, die sich auch als unendlich hätte erweisen können. Doch ungläubig sah man eines Tages mit an, wie sich sein Mechanismus plötzlich verklemmte.
    Der Assistent ging gerade über den Flur im zweiten Stockwerk, als sein Blick auf etwas fiel, das er in den vielen Jahren schon tausendmal gesehen hatte. Und das er in diesem Augenblick offenbar trotzdem das erste Mal sah. Da saß ein Mann in seiner grau und braun gestreiften Uniform zusammengekauert auf dem Boden. Mit systematischer Akribie zerlegte er seine Exkremente in kleine Stückchen, die er dann langsam in den Mund schob und geduldig und seelenruhig kaute. Der Assistent blieb stehen. Er ging zu dem Mann und hockte sich vor ihn hin. Er begann ihn wie gebannt anzustarren. Der Mann schien von seiner Anwesenheit nicht einmal Notiz zu nehmen. Er fuhr mit seiner absurden, doch gründlichen Arbeit fort. Minutenlang starrte der Assistent ihn an, ohne sich zu rühren. Dann begann seine Stimme fast unmerklich zwischen die tausend Geräusche dieses von unschuldigen Monstern bevölkerten Korridors zu gleiten.
    »Scheiße. Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße! Ihr sitzt alle in einem See voll Scheiße. Der Arsch verfault euch in einem Meer voll Scheiße. Die Seele verfault euch. Die Gedanken. Alles. Eine riesige Sauerei, wirklich wahr, eine erstklassige Sauerei. Ein tolles Schauspiel. Verfluchtes Pack! Ich hatte euch nichts getan. Ich wollte bloß leben. Aber das geht nicht, stimmt’s? Man muß krepieren, man muß sich der Reihe nach anstellen, um zu verfaulen, einer nach dem anderen, nur da, um sich anzuekeln, mit viel Anstand. Los, krepiert, ihr Schweine! Krepiert. Krepiert. Krepiert. Ich werde euch krepieren sehen, einen nach dem anderen, das ist alles, was ich jetzt noch will, sehen, wie ihr krepiert, und auf die Scheiße spucken, die ihr seid. Wo ihr euch auch verkrochen habt, ihr müßt euch vom Schlimmsten aller Übel fressen lassen und schreiend vor Schmerzen sterben, ohne daß auch nur ein Hahn nach euch kräht, einsam wie Tiere, die Tiere, die ihr gewesen seid, abscheuliche, widerwärtige Bestien. Wo du auch sein magst, mein Vater, du und der Schrecken deiner Worte, du und der Skandal deines Glücks, du und die Widerlichkeit deiner Feigheit … nachts sollst du krepieren, mit einer Angst, die dir die Kehle zuschnürt, und einem höllischen Schmerz im Leib und dem Gestank des Entsetzens an dir! Und mit dir soll deine Frau krepieren, Flüche ausspuckend, die ihr ein endloses Paradies der Qualen bescheren werden! Die Ewigkeit würde nicht reichen, sie für all ihre Schandtaten büßen zu lassen. Soll doch alles krepieren, was ihr berührt habt, die Dinge, die ihr gesehen habt, und jedes einzelne Wort, das ihr sagtet! Die Wiesen sollen verwelken, auf die ihr eure elenden Füße gesetzt habt, und die Menschen, die ihr mit dem Moder eures Lächelns besudeltet, sollen wie verwesende Harnblasen platzen. Genau das will ich. Euch krepieren sehen, euch, die ihr mir das Leben gegeben habt. Und zusammen mit euch all die, die es mir später
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