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Der verlorene Brief: Roman (German Edition)

Der verlorene Brief: Roman (German Edition)

Titel: Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
Autoren: Robert M. Talmar
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1. KAPITEL
Glimfáin
    A LLE H OFFNUNG WAR AUS Finn gewichen. Es gab kein Entrinnen. Er hustete und keuchte. Der junge Vahit hielt Tallias Kopf dicht an seine Schulter gepresst, schützte ihre Haare mit seinen Armen, obwohl die Geste so sinnlos war wie jeder Gedanke an ein Entkommen. Aber es war das Einzige, was er noch für sie tun konnte. Sie halten und schützen. Für wie lange?
    Für Minuten? Oder nur für zwei, drei letzte Atemzüge? Doch das Luftholen war fast unmöglich geworden. Die Luft kochte. Seine Augen brannten im beißenden quellenden Rauch. Die Tränen verdampften auf seinen Wangen. Das sich heranfressende Feuer leckte beinahe an ihren Kleidern. Die Hitze wurde unerträglich.
    Später wusste er nicht zu sagen, was eher sein Bewusstsein erreichte: das nie zuvor gehörte Lied oder das beginnende Tröpfeln des Wassers.
    Zuerst glaubte er, seine vom Qualm umnebelten Sinne spielten ihm einen hämischen Streich. Als wollten sie ihn mit seinem letzten Atemzug verhöhnen. Aber dann bewegte sich die übel riechende Wolke weiter. Auch Tallia regte sich in seinen Armen. Sie wandte den Kopf, als lausche sie. Zugleich sah er ihr Gesicht, das von Tränen überströmt war. Bis er merkte, es waren mitnichten Tränen, sondern Tropfen, die vom Himmel fielen und über ihre Wangen rannen: zaghaft zuerst, dann sich munter mehrend, alsbald heftiger und härter fallend, bis ein wahrer Regenguss über ihren Köpfen herniederging. Ehe sie sich’s versahen, waren sie klitschnass.
    Kaum zehn Herzschläge später ergossen sich ganze Sturzbäche über sie, als kippte jemand über ihnen Fässer um Fässer um. Im Nu standen sie mit den Füßen in knöchelhohen Pfützen, und immer noch regnete, schüttete, prasselte es.
    Aber es war nicht mehr das Feuer, das sie hörten, sondern das Klatschen der fingerdicken Wasserfäden, die in die Riedgräser peitschten, sie durchnässten und die aufstöhnenden Flammen erstickten. Und hinter all den herabfallenden Wassermassen, da lag ein Ton, ein Singsang, eine Art Lied und doch wieder nicht. Der Ton schwoll an und wieder ab. Oder sie täuschten sich, und es war allein der Regen, der ihre Ohren narrte.
    Maziá-maná-khinmartum!
    »Hörst du das?« Tallia drehte unentwegt ihren pitschnassen Kopf, an dem die Haare klebten. »Was ist das? Sind das Worte, die jemand singt?«
    Omaziá-i-núibra-khum! Maziá-maná-khinmartum!
    Nicht alle Feuer erloschen, aber sie waren nicht länger von undurchdringlichen Flammen eingekreist. Einige Stellen loderten weiter   – weiß glühend, heiß und heller, als Feuer eigentlich sein durfte. Manche waren nur klein, kaum mehr als Feuerperlen in der Nacht, doch selbst die brannten weiter, als das Wasser des Regens sie längst mit schillernden Pfützen bedeckte. Andere waren flächiger, Fladen aus Feuer, die an Büschen und Ästen klebten wie brennender Honig: zischend und zähfließend und dabei Fäden ziehend wie erhitztes Pech, das von einem Holzlöffel zurück in den Bottich tropfte.
    Maná-maziá-khinmaktum! Omaziá-i-maná-núm!
    Und da war ein Feuer, das ebenfalls nicht erlosch, doch es war von gänzlich anderer Art. Zuerst sahen sie es kaum, denn noch waren ihre Augen geblendet von den tobenden Flammen. Bläulich schimmerte es, viele Klafter entfernt, umgeben von einem schwankenden Kreis aus hellerem Licht, das neblig war und weißlich und wabernd. Der blaue Kern war nicht groß, eine Handvoll Licht, so schien es Finn, das vor ihnen über dem Bodenschwebte und nicht höher als ihre Knie reichte. Es bewegte sich nicht.
    Dann klärten sich ihre Sinne, und sie glaubten einen Atemzug lang, zwei Hände zu erkennen, die das Licht in der Dunkelheit hielten. Und der Gesang hielt an, und die Stimme kam von ebendaher.
    Omaziá-maná-khinmaktum! Omaziá-i-núibra-khum!
    So sang es, nicht eintönig, aber auch nicht melodisch. Es war mit nichts zu vergleichen, das Finn und Tallia jemals gehört hatten.
    Kühler wurde es, befreiend frisch erschien ihnen mit einem Mal die Luft.
    Beide Vahits hielten ihre Gesichter in die herabströmenden Regenfäden, und aller Schmutz, aller Schmier des Ascheschnees löste sich und wurde hinfortgespült. Dank des Regens waren sie tatsächlich wieder frei, wie sie jetzt sahen; das Feuer hatte seinen vernichtenden Ring um sie an ein Feld aus mehr oder minder großen Wasserlachen verloren. Pitschend und platschend begannen sie, darin herumzutapsen, denn erst jetzt begriffen sie, was geschehen war.
    Sie waren vor dem sicheren Tod errettet
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