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Land aus Glas

Land aus Glas

Titel: Land aus Glas
Autoren: Alessandro Baricco
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Prozent, und dann singt man hinein … singt einen mehr oder weniger kurzen Satz hinein, das hängt natürlich von der Länge des Rohrs ab … Man singt, und dann lauscht man, und … und die Stimme steigt auf, immer höher, dann hält sie an und kommt zurück, und man hört sie, verstehst du, man hört sie … die eigene Stimme … das wäre einmalig … sich hören zu können … das wäre eine Revolution für sämtliche Gesangsschulen der Welt … Kannst du dir das vorstellen? … ›Pekischs Selbsthorchgerät, unentbehrlich für die Ausbildung jedes großen Sängers‹, ich sage dir, das würde weggehen wie warme Semmeln! Man könnte es in allen Größen herstellen und den besten Neigungswinkel herausfinden und alle Metalle ausprobieren, wer weiß, vielleicht muß man sie aus Gold machen, man muß es ausprobieren, das ist das ganze Geheimnis: probieren und wieder probieren, man erreicht nie was, wenn man es nicht hartnäckig immer wieder probiert …«
    »Vielleicht ist ein Loch im Rohr, und die Stimme ist da hinaus verschwunden.«
    Pekisch hält inne. Er sieht das Rohr an. Er sieht Pehnt an.
    »Ein Loch im Rohr?«
    »Vielleicht.«
    Und trotzdem, so wunderschön das Abendlicht zweifellos auch ist, es gibt etwas, das es schafft, noch schöner als das Abendlicht zu sein, und das ist genau dann, wenn durch unbegreifliche Spiele der Luftströmungen, Kapriolen des Windes, Launen des Himmels, gegenseitige Flegeleien zerrissener Wolken und Dutzende von Zufälligkeiten, einer regelrechten Ansammlung von Zufällen und Widersinnigkeiten – wenn es in diesem einzigartigen Licht, dem Abendlicht, unvermutet regnet. Die Sonne scheint, die Abendsonne, und es regnet. Das ist das größte. Und es gibt keinen Menschen, so sehr er auch von Schmerzen geplagt oder von Angst verzehrt sein mag, der angesichts eines solchen Aberwitzes nicht irgendwo ein unbändiges Verlangen zu lachen aufsteigen spürt. Vielleicht lacht er dann nicht wirklich, doch wenn die Welt ein gütigerer Seufzer wäre, könnte er lachen. Denn das ist wie ein riesiger, universeller gag, perfekt und unwiderstehlich. Etwas Unglaubliches. Sogar das Wasser, das Wasser, das dir in kleinen Tropfen, die die tief über dem Horizont stehende Sonne einen nach dem anderen gezogen hat, auf den Kopf fällt, scheint kein richtiges Wasser zu sein. Es wäre nicht weiter verwunderlich, wenn man beim Kosten feststellte, daß es gezuckert ist. Nur so zum Beispiel. Jedenfalls kein normales Wasser. Eine umfassende, grandiose Ausnahme von der Regel, eine großartige Verarschung jeglicher Logik. Ein aufregendes Gefühl. So daß zu allen Dingen, die letztlich eine Rechtfertigung für die übrigens lächerliche Angewohnheit zu leben liefern, zweifellos auch dieses von allen klarste und reinste gehört: dasein, wenn es in diesem einzigartigen Licht, das das Abendlicht ist, unvermutet regnet. Wenigstens einmal, dasein.
    »Verdammt! Ein Loch im Rohr … wie konnte ich das bloß vergessen … mein lieber Pehnt, genau da liegt der Hund begraben … ein Loch im Rohr … ein irgendwo verstecktes, verfluchtes kleines Loch, natürlich … da durch ist die ganze Stimme entwischt … in Luft aufgelöst …«
    Pehnt hat den Kragen seiner Jacke hochgeschlagen, hält die Hände in den Taschen vergraben, schaut Pekisch an und lächelt.
    »He, weißt du was? Wir finden es, Pehnt … Wir werden dieses Loch finden … Wir haben noch gut eine halbe Stunde Tageslicht, und wir werden es finden … Auf geht’s, mein Junge, so leicht lassen wir uns nicht verscheißern … o nein!«
    Und so ziehen sie los, Pekisch und Pehnt, Pehnt und Pekisch, gehen wieder am Rohr entlang, einer links und einer rechts, langsam, und untersuchen gebückt jede Handbreit des Rohrs, um diese ganze verlorengegangene Stimme zu suchen; wenn jemand sie von weitem sähe, könnte er sich zu Recht fragen, was zum Teufel diese beiden da mitten in der Landschaft treiben, die Augen starr auf den Boden gerichtet, mit stockenden Schritten, wie Käfer, obwohl sie doch Menschen sind; wer weiß, was sie Wichtiges verloren haben, daß sie so durch die Landschaft krabbeln; wer weiß, ob sie es jemals finden; es wäre schön, wenn sie es fänden, damit wenigstens einmal, wenigstens manchmal in dieser gottverfluchten Welt jemandem, der etwas sucht, auch zuteil wird, es zu finden, einfach so, und er sagen kann: Ich habe es gefunden – mit einem feinen Lächeln – , ich habe es verloren, und ich habe es gefunden – dann wäre Glück kein
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