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Land aus Glas

Land aus Glas

Titel: Land aus Glas
Autoren: Alessandro Baricco
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und immer so weiter. Es mag unglaublich klingen, doch mit so einem System kann man durchaus Kilometer fressen, wenn man will. Pekisch, weniger anspruchsvoll, mummelt nur Meter, einen nach dem anderen. So daß schließlich nur noch zwanzig fehlen, zwanzig Meter bis zum Ende des Rohrs, dann nur noch zwölf, dann acht, sieben, drei, einer, aus. Pekisch bleibt stehen. Sein Herz ist außer Rand und Band. Sein Atem schlingert, überschlägt sich, rasselt und entgleist. Alles halb so wild, denn ringsumher ist das Abendlicht.
    »Pehnt!«
    Pehnt ist ein kleiner Junge. Obgleich er eine Männerjacke anhat, ist Pehnt ein kleiner Junge. Er liegt lang ausgestreckt mit dem Rücken auf dem Boden, die Augen zum Himmel gerichtet, ohne ihn allerdings zu sehen, denn die Augen sind geschlossen. Er hält sich mit einer Hand das rechte Ohr zu. Das linke zwängt er, so weit er kann, in das Rohr hinein. Wenn er könnte, würde er den ganzen Kopf in dieses Rohr stecken, doch nicht einmal der Kopf eines kleinen Jungen paßt in ein Rohr mit dem Durchmesser eines Kaffeepotts. Da hilft alles nichts.
    »PEHNT!«
    Der Junge schlägt die Augen auf. Er sieht den Himmel, und er sieht Pekisch. Es ist keineswegs so, daß er weiß, was zum Teufel er tun soll.
    »Steh auf, Pehnt, es ist vorbei!«
    Pehnt steht auf, Pekisch läßt sich auf den Boden fallen. Er sieht dem Jungen in die Augen.
    »Und?«
    Pehnt reibt sich ein Ohr, reibt sich das andere Ohr und läßt seinen Blick schweifen, als suche er den längsten Weg, auf dem er schließlich bei Pekischs grauen Augen landen würde.
    »Hallo, Pekisch!«
    »Wie – hallo?«
    »Hallo!«
    Hätte Pekisch nicht ein Herz, das ihn innerlich immer noch zerfetzt, würde er an dieser Stelle vielleicht ein bißchen herumschreien. Doch er flüstert nur: »Bitte, Pehnt. Red kein dummes Zeug. Sag mir, was du gehört hast!«
    Er hat eine Männerjacke an. Pehnt. Eine schwarze. Von den Knöpfen ist nur noch einer übrig, der oberste. Er malträtiert ihn zwischen seinen Fingern, knöpft ihn zu und knöpft ihn auf, er sieht wie einer aus, der das bis in alle Ewigkeit tun könnte, einer, der nie mehr aufhört.
    »Red schon, Pehnt! Sag mir, was zum Donnerwetter du in diesem Rohr gehört hast!«
    Pause.
    »David und Goliath?«
    »Nein, Pehnt.«
    »Die Geschichte vom Roten Meer und dem Pharao?«
    »Nein.«
    »Vielleicht Kain und Abel … ja, das war, als Kain Abels Bruder war und …«
    »Pehnt, du brauchst nicht zu raten, da gibt’s nichts zu raten. Du sollst bloß sagen, was du gehört hast. Und wenn du nichts gehört hast, mußt du sagen: Ich habe nichts gehört.«
    Pause.
    »Ich habe nichts gehört.«
    »Nichts?«
    »Fast nichts.«
    »Fast nichts oder nichts?«
    »Nichts.«
    Wie von einem niederträchtigen Insekt gestochen, springt Pekisch auf und rudert in Windmühlenmanier mit den Armen, während er mit ungläubigen und vollkommen konfusen Schritten auf den Boden stampft, Sätze zwischen den Zähnen zermalmt und eine komische Wut psalmodiert. Wörter in einer Prozession.
    »Das darf doch nicht wahr sein, verdammt noch mal … das kann nicht sein, das kann nicht sein, das kann nicht sein … Sie kann doch nicht einfach so verschwinden, irgendwo muß sie doch bleiben … Man kann nicht literweise Wörter in ein Rohr schütten und dann zusehen, wie sie sich direkt vor einem einfach in Luft auflösen … Wer schluckt denn diese ganze Stimme? … Da muß irgendwas falsch sein, soviel steht fest … Da haut was nicht hin, das liegt auf der Hand … Irgendwas machen wir falsch … Vielleicht braucht man ein kleineres Rohr … Oder vielleicht muß man es ein bißchen anheben, ja klar, vielleicht ist ein leichtes Gefalle nötig … Das ist nur logisch, sie ist imstande, nach einer Weile anzuhalten, genau mitten im Rohr … Wenn der Schwung weg ist, hält sie an … Sie dümpelt ein bißchen in der Luft herum, verhaspelt sich und setzt sich dann auf dem Boden des Rohrs ab, wo das Zinn sie verschluckt … Bestimmt ist es was in der Art … Was, wenn man es recht bedenkt, auch umgekehrt funktionieren müßte … bestimmt … Wenn ich in ein ansteigendes Rohr spreche, steigen die Wörter hoch, solange sie Schwung haben, dann fallen sie wieder runter, und ich kann sie noch einmal hören … Pehnt, das ist genial, verstehst du, was das heißt? … Die Leute könnten sich praktisch selbst wieder hören, sie könnten haargenau ihre eigene Stimme wieder hören … Man nimmt ein Rohr, hält es nach oben, sagen wir mit einer Neigung von zehn
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