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Land aus Glas

Land aus Glas

Titel: Land aus Glas
Autoren: Alessandro Baricco
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gebührenden Ritual, einem winzigen, fast unmerklichen und vollkommen intimen Ritual: Er löschte das Licht, er und Jun blieben in der Dunkelheit zurück, schweigend auf der Schwelle zur Nacht nebeneinander im Bett. Sie ließ ein paar nichtige Augenblicke verstreichen, schlug dann die Augen auf und anstatt
    »Gute Nacht!«
    zu sagen, fragte sie:
    »Wann fährst du?«
    »Morgen, Jun.«
    Am nächsten Tag fuhr er ab.
    Wohin er fuhr, wußte niemand. Nicht einmal Jun. Manche Stimmen behaupteten, auch er wüßte es nicht so genau, und führen als Beweis jenen denkwürdigen Sommer an, als er am Morgen des siebten August abreiste und am Abend des darauffolgenden Tages mit den sieben ungeöffneten Koffern und dem Gesicht eines Menschen, der das Normalste der Welt tat, zurückkehrte. Jun fragte nichts. Er sagte nichts. Das Personal packte die Koffer aus. Das Leben nahm, nach kurzem Zögern, wieder seinen Lauf.
    Bei anderer Gelegenheit, auch das muß gesagt werden, war er imstande, monatelang wegzubleiben. Was nicht das Geringste an einer seiner ausgeprägtesten Gewohnheiten änderte: Nämlich nichts, aber auch gar nichts von sich hören zu lassen. Er verschwand im wahrsten Sinne des Wortes. Kein Brief, gar nichts. Jun wußte, woran sie war, und verlor keine Zeit damit zu warten.
    Die Leute, die Mr. Rail im großen und ganzen gut leiden konnten, glaubten, er sei geschäftlich unterwegs.
    »Er muß wegen der Glasfabrik dahin.«
    Sagten sie. Wo dahin sein sollte, blieb ungewiß, doch war das wenigstens der Ansatz einer Erklärung. Und etwas Wahres war auch daran.
    Tatsächlich kam Mr. Rail von Zeit zu Zeit mit merkwürdigen und großzügig gefaßten Verträgen im Gepäck zurück: 1500 Gläser in Form eines Schuhs (die dann unverkauft in den Schaufenstern von halb Europa herumstanden), 820 Quadratmeter Buntglas (sieben Farben) für die neuen Fenster von Saint-Just, eine Kugel von achtzig Zentimetern Durchmesser für die Gärten des Königshauses und so fort.
    Ebenso bleibt unvergessen, wie Mr. Rail nach der Rückkehr von einer seiner Reisen, ohne sich auch nur den Straßenstaub abzuklopfen und praktisch ohne irgendwen zu begrüßen, geradewegs durch die Wiesen zur Fabrik hinunterlief und in der Fabrik weiter bis zum Kabäuschen von Andersson, diesem geradewegs in die Augen sah und fragte: »Hör mal, Andersson, wenn wir eine Glasscheibe machen müßten – wir müßten sie aber groß machen, verstehst du? Richtig groß … so groß wie möglich … und vor allem … dünn … riesengroß und dünn … was glaubst du, wie groß wir sie machen könnten?«
    Der alte Andersson saß mit der Lohnabrechnung vor der Nase da. Er hatte nicht die geringste Ahnung davon. Er, der bei allem, was mit Glas zu tun hatte, ein absolutes Genie war, verstand von Lohnabrechnung nicht die Bohne. Er stolperte mit einfältigem Staunen durch die Zahlen. Daher ließ er sich, als er hörte, daß von Glas die Rede war, wie ein erschöpfter Fisch an der Angel bereitwillig aus seinem Meer ziehen, dem Zahlenmeer, dem Lohnabrechnungsmeer.
    »Na ja, vielleicht einen Meter, eine Scheibe von einem Meter mal dreißig Zentimeter wie die, die wir für Denbury gemacht haben.«
    »Nein, Andersson, noch größer … wirklich die größte, die du dir vorstellen kannst.«
    »Noch größer? … Tja, man könnte probieren und probieren, und wenn wir sie dutzendweise zerspringen lassen können, schaffen wir es am Ende vielleicht, eine richtig große zu machen, vielleicht zwei Meter lang … vielleicht auch noch mehr, sagen wir, zwei mal ein Meter, ein Rechteck von zwei Metern Länge …«
    Mr. Rail ließ sich gegen die Stuhllehne zurückfallen.
    »Weißt du was, Andersson? Ich habe ein System entdeckt, mit dem man sie dreimal so groß machen kann.«
    »Dreimal so groß?«
    »Dreimal.«
    »Und was machen wir mit einer dreimal so großen Glasscheibe?«
    Das fragte ihn der Alte: Was machen wir, fragte er ihn, mit einer dreimal so großen Glasscheibe?
    Und Mr. Rail antwortete.
    »Geld, Andersson. Jede Menge Geld.«
    Um es gleich vorwegzusagen, das System, das Mr. Rail wohlverwahrt in seinem Kopf und eingeschlossen in seiner Phantasie von wer weiß welchem Ende der Welt mitgebracht hatte, um es nun vor Anderssons kristallklaren Augen aufzutischen, war alles in allem tatsächlich absolut genial, allerdings alles in allem auch absolut unzureichend. Aber Andersson war ein Glasgenie, er war es seit undenklichen Zeiten, denn vor ihm war das schon sein Vater gewesen, und vor seinem Vater
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