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Land aus Glas

Land aus Glas

Titel: Land aus Glas
Autoren: Alessandro Baricco
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war es der Vater seines Vaters gewesen – und damit der erste in der Familie, der seinen Vater und dessen bäuerlichen Beruf zum Kuckuck gejagt hatte, um herauszufinden, wie zum Teufel man diesen Stein verarbeitete, diesen magischen Stein ohne Seele, ohne Vergangenheit, ohne Farbe und ohne Namen, den sie Glas nannten. Er war also ein Genie, er war es seit einer Ewigkeit. So begann er, darüber nachzudenken. Denn natürlich mußte es wirklich ein System geben, mit dem man eine dreimal größere Glasscheibe herstellen konnte, und das, genau das, war das Geniale an Mr. Rails System: zu ahnen, daß etwas möglich war, noch bevor es überhaupt jemandem in den Sinn kam, es zu brauchen. Andersson arbeitete Tage, Wochen und Monate daran. Schließlich entwickelte er ein System, das sich unter der Bezeichnung »Andersson-Patent der Rail-Glasfabrik« halbwegs einen Namen machte und wohlwollende Reaktionen in der Lokalpresse hervorrief sowie ein vages Interesse bei einigen gewitzten Geistern hier und da auf der Welt. Viel wichtiger aber ist, daß ebendieses »Andersson-Patent der Rail-Glasfabrik« Mr. Rails Leben fortan für einige Jahre verändern sollte, denn es hinterließ, wie man sehen wird, eine Spur in seiner Geschichte. Einer einzigartigen Geschichte, die in jedem Fall sicher ihren Weg gefunden hätte, um dorthinzugleiten, wo sie ankommen sollte und wollte, dorthin, wo geschrieben stand, daß sie ankäme, und die sich trotzdem ausgerechnet auf das »Andersson-Patent der Rail-Glasfabrik« stützen wollte, um sich in einem ihrer bedeutungsvollsten Wechselfälle zu präsentieren. So ist das Schicksal. Es könnte sich unsichtbar aus dem Staub machen, doch statt dessen brennt es hier und da ein paar der unzähligen Augenblicke eines Lebens hinter sich ab. Sie glühen in der Nacht der Erinnerung und markieren so den Fluchtweg des Schicksals. Einsame Feuer, gut geeignet, sich Rechenschaft zu geben, irgendeine.
    Daher wird auch im Licht des »Andersson-Patents der Rail-Glasfabrik« und seiner entscheidenden Entwicklungen deutlich, weshalb der hinreichend verbreitete Gedanke, daß Mr. Rails Reisen im wesentlichen als Geschäftsreisen zu betrachten waren, gerechtfertigt klingen konnte. Und dennoch …
    Und dennoch konnte niemand wirklich vergessen, was allen bekannt war, nämlich eine Unzahl von Einzelheiten, Nuancen und offensichtlichen Indizien, die ein zweifellos anderes Licht auf das feststehende und unerforschte Phänomen warfen, das Mr. Rails Reisen darstellten. Eine Unzahl von Einzelheiten, Nuancen und offensichtlichen Indizien, die zu erwähnen man sich nicht einmal mehr die Mühe machte, seitdem sie, wie unzählige Bäche in einem einzigen See, in der klaren Wahrheit eines Januarnachmittags zerlaufen waren: als Mr. Rail bei der Rückkehr von einer seiner Reisen nicht allein, sondern mit Mormy zurückkam und, während er Jun in die Augen sah, einfach zu ihr sagte – während er dem Jungen seine Hand auf die Schulter legte – zu ihr sagte – gerade als der Junge seinen Blick auf Juns Gesicht und ihre Schönheit heftete – sagte: »Er heißt Mormy und ist mein Sohn.«
    Oben der verschlissene Januarhimmel. Und ringsumher eine Handvoll Bedienstete. Alle schauten unwillkürlich zu Boden. Nur Jun nicht. Sie betrachtete die glänzende Haut des Jungen, sandfarbene Haut, von der Sonne verbrannte Haut, doch ein für allemal von einer Sonne von vor tausend Jahren. Und ihr erster Gedanke war: »Diese Hure war schwarz.«
    Sie sah sie vor sich, diese Frau, die Mr. Rail irgendwo auf der Welt zwischen ihre Beine gepreßt hatte, wer weiß, ob für Geld oder aus Spaß, wahrscheinlich aber für Geld. Sie betrachtete den Jungen, seine Augen, seine Lippen, seine Zähne, und sie sah sie immer deutlicher vor sich – so deutlich, daß ihr zweiter, ebenso klarer wie niederschmetternder Gedanke war: »Diese Hure war bildschön.«
    Zwei Gedanken füllen nicht mehr als einen Augenblick. Und es war nur ein Augenblick, den dieses winzige Universum von Menschen, das von der umfassenderen Galaxie des Lebens abgetrennt war und das in der Aufregung über einen offensichtlichen Skandal nach vorn gebeugt dastand – es war nur ein Augenblick, den dieses winzige Universum von Menschen der Stille überließ. Denn dann drang sogleich ihre Stimme durch jedermanns Verlegenheit an jedermanns Ohr.
    »Hallo, Mormy. Ich heiße Jun, und ich bin nicht deine Mutter. Ich werde es auch nie sein.«
    Aber sanft. Das können alle bestätigen. Sie sagte es sanft. Sie
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