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Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)

Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)

Titel: Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)
Autoren: Michael Schuck
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altmodische Drehpendeluhr. Ihre zwei Gewichte waren durch figürliche Darstellungen, nämlich den sensenschwingenden Tod und einen vor ihm flüchtenden, offensichtlich verzweifelt schreienden Menschen, künstlerisch ausgestaltet worden. In immerwährendem Kreislauf verfolgte der Tod den fliehenden Menschen. schwang die Sense zurück und schlug mit ihr wieder zu. Eine makabre Darstellung, befand Dalio und ließ seinen Blick wieder durch den Raum schweifen.
    Als er sich mit einer Frage auf den Lippen zum Wirt umwandte, zuckte er heftig zusammen, denn statt des Wirtes stand sie dort, die namenlose Frau, und sah Dalio unverwandt an. Täuschte ihn das Licht oder war ihre Haut heute noch blasser als bei ihrer letzten Begegnung? Der Dunst und die Atmosphäre unsicherer Beleuchtung waren naturgemäß nicht geeignet, Details und Feinheiten erkennbar zu machen. Aus dem undurchdringlichen Hintergrund trat nun der Wirt neben die Frau und setzte mit Fingern, deren Nägel und Kuppen so abgestoßen und verschmutzt aussahen, als würde er ständig in bloßer Erde arbeiten, ein Glas vor Dalio hin. Er sah Dalio an und sagte: " Campari, der Herr, bitte schön!"
    Er legte seine Pranke auf die Schulter der Frau neben sich und fuhr, ohne seinen Blick von Dalio zu nehmen, fort: "Und diese Schöne hier hat hinter der Theke nichts zu suchen." Er wollte sie offenbar aus dem Thekengang heraus drängen.
    Die Frau drückte ihm mit aller Ruhe ihre Hand ins Gesicht. Er ließ sie sofort los und taumelte schmerzerfüllt gegen das Schankregal. Mit seinen beiden groben Händen umklammerte er den zarten Arm der Frau, um sich zu befreien. Aber er brachte ihre Hand nicht von seinem Gesicht. Die Beine gaben unter ihm nach. Ganz langsam rutschte er am Regal entlang nach unten, bis er auf dem Boden saß. Die Frau ließ von ihm ab und gab das Gesicht des Wirtes Dalios entsetztem Blick frei. Da war keine Haut mehr, kein Fleisch, nur noch eine unklare form- und knochenlose, weiß ausgelaugte Masse. Das Gesicht des Wirtes war eingeebnet. Zwar lebte er, denn das schwarze Loch, wo sich eben noch sein Mund befunden hatte, formte immer wieder zuckende, stumme Schreie.
    Die Frau stieg gelassen über die hilflos dahin gestreckten, zuckenden Beine des Wirtes hinweg und schritt um die Theke herum auf Dalio zu. Sie streckte ihm jene Hand entgegen, die im Gesicht des Wirtes diese schreckliche Wirkung hinterlassen hatte. Dalio sah die Frau an, erkannte jenes reine Lächeln wieder, das ihn schon einmal so stark beeindruckt hatte. Er fasste die ihm entgegengestreckte Hand und spürte sofort diese angenehme Wachheit, die zu fühlen er zutiefst gehofft hatte. Die Frau zeigte ein deutliches Bestreben, das Lokal schnell zu verlassen, zumal jetzt doch einige Gäste auf das grausame Geschehen hinter der Theke aufmerksam geworden waren, vor allem, weil der Getränkenachschub stagnierte.
    Dalio folgt ihrer sanften Führung. Erst als die kühle, feuchte Nachtluft auf dem Place de Dornier sein Gesicht berührte, fiel ihm ein, dass es vielleicht angebracht gewesen wäre, dem Wirt kompetente Hilfe zukommen zu lassen. Aber Dalio beruhigte das kurze Zucken seines Gewissens mit dem Hinweis darauf, dass ja genügend Menschen in dem Café waren, die den Wirt, soweit das überhaupt noch möglich war, hätten versorgen können.
    Die Frau führte ihn immer tiefer in das Gewirr der Gassen, bis sie ihr Ziel, ein sehr altes Haus, erreicht hatte. Sie trat so rasch ein und zog ihn hinter sich her, dass Dalio sich weder über die Lage, noch über Ausmaße und Bauweise des Hauses Gewissheit verschaffen konnte. Schweigend führte ihn die Frau eine teppichbelegte Treppe hinan, betrat ein boudoirähnliches Zimmer, machte mit einer seltsamen Handbewegung Licht und löste sich von Dalio. Sie ließ ihren dunklen Umhang von der Schulter gleiten und begann sich langsam vor Dalio wie im Tanze zudrehen.
    Rechts neben ihr stand ein hoher Spiegel, der die von ihr unterbrochenen Lichtstrahlen auf eigenartige Weise in den Raum hinein reflektierte. Dalio fühlte sich schwindelig werden. Ihre Bewegung wurde gerade durch die Langsamkeit wie ein Sog, der ihn unaufhaltsam in sein Zentrum zog. Dann begann sie sich schneller zu bewegen. Die Lichtergarben um sie herum schienen sich gleichsam immer wieder neu zu materialisieren, brachten fließende Abbilder ihrer sich immer schneller drehenden Gestalt hervor. Dalio konnte die Bilder nicht mehr fassen. Sie bauten sich auf wie eine Sturmwoge, die, wenn sie sich dem Strand
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