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Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)

Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)

Titel: Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)
Autoren: Michael Schuck
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etwas wie Erleichterung bei dem alten Leichendiener zu spüren, dem die stillen Toten mit der Zeit wohl erträglicher geworden waren als die lamentierenden Verwandten.
    Vor einer langen Reihe von Kühlfächern blieb er stehen und verglich ihre Nummern mit der auf der Karteikarte, die er in der Hand hielt. Die Karte zeigte die Nummer 19. Ob es an dem Licht lag oder ob der Leichendiener Opfer einer kleinen Verwirrung war - jedenfalls zog er die Lade mit der Nummer 18 auf.
    Dalio erkannte die Leiche der Frau, der er nunmehr zum vierten Male und wieder auf höchst unheimliche Weise begegnete. In unbeschreiblichem Aufruhr sprang Dalio von dem Stuhl auf, wandte sich der Frau zu, die ihm zwar auf den ersten Blick in keiner Weise verletzt schien, deren gläserne Blässe aber auf die Anwesenheit des Todes hinwies. Wie eine Meute hungriger Wölfe fielen Dalio jene Fragen ein, die er früher, in jungen Jahren als unlösbar mit ganzer Kraft zurückgewiesen hatte, wohl wissend, sie rissen seine Seele in Stücke, wenn er sie zuließe. Was geschah denn wirklich nach dem Tod? Gab es eine unsterbliche Seele? War diese Frau wirklich tot, oder waren sie und damit auch er, nur das Opfer eines unglaublichen Irrtums? Da, hatten jetzt nicht ihre Finger gezuckt? Hatten nicht gerade ihre Augenlider geflattert? Er konnte seinen Blick nicht von der Frau lösen, geschweige denn fortgehen, um diesem grauenhaften Augenblick zu entfliehen.
    Aber da stand dieser stoische Leichendiener neben ihm, der in all seiner Stumpfheit für Dalio zum Garanten und Bollwerk der Ratio wurde. Möglichst beherrscht wandte er sich an ihn: "Weiß man, woran diese Frau gestorben ist?"
    Erst jetzt begann der Leichendiener zu ahnen, dass er einen Fehler gemacht hatte: "Es ist nicht die Richtige, hm? Wollen mal sehen, ah, hier steht es. Todesursache unbekannt. Sie geht bestimmt noch in die Autopsie", sagte er und schob die Lade wieder zurück. Dann zog er die Lade mit der Nummer 19 heraus und Dalio erblickte die tote Josefa. Es war sicher richtig, dass er und nicht Serafin Josefa zu identifizieren hatte. Ihr Gesicht war durch den Unfall auf grausame Weise verunstaltet.
    "Ist sie es?" , fragte der Mann im weißen Kittel und Dalio nickte betroffen. Der Leichendiener machte eine Notiz auf der Karteikarte.
    Einer inneren Eingebung folgend sagte Dalio: "Lassen Sie mich bitte einen Augenblick mit ihr allein!"
    Der alte Mann sah ihn forschend an, fand aber offensichtlich keinerlei Grund zur Besorgnis und verließ die Kammer ohne weiteren Kommentar.
    Dalio sah sich kurz um und fand vor den Gestellen mit diversen weitgehend abgedeckten, silberglänzenden Instrumenten einen weißlackierten Stuhl, den er sich heranholte, um sich vor dem Leichnam Josefas einem Augenblick ruhiger Besinnung hinzugeben. Aber es wurde nichts mit der inneren Ruhe. Der Schrecken über das unerwartete Wiedersehen mit der toten Namenlosen ergriff von ihm Besitz und brachte ihn zum Zittern. Ihn packte ein kaum zu beschreibender Zwang, die Lade mit der Nummer 18 noch einmal aufzuziehen.
    Stattdessen erhob sich Dalio mit einem Ruck, verließ fluchtartig die Kammer, rannte an dem Beamten am Eingang des Hauses vorbei, ohne ihn auch nur anzusehen und verließ das Haus. Nur mühsam gewann Dalio die innere Fassung zurück, die ihm ermöglichte, Serafin im Wagen die betrübliche Bestätigung zu überbringen, die selber zu finden sich jener so sehr gefürchtet hatte.
    Die letzte Begegnung mit der Namenlosen war vielleicht die geheimnisvollste. Jedenfalls wurde Dalio nach der Begegnung im Leichenschauhaus von einer Welle des Erfolges geradezu überspült. Seine Bilder waren plötzlich heiß begehrt, ohne, dass es dafür eine schlüssige Erklärung gab .. Und kaum hatte die Galerie im Hause Fochier seine Bilder ausgestellt, verkauften sich auch seine Romane in nie gekanntem Ausmaß.
    Dalio stand in kritische Betrachtung versunken vor dem Bild, das ihm insgeheim das wichtigste in seiner ganzen Ausstellung war. Ihm erschien es nun, nach längerem Betrachten, unvorteilhaft ausgeleuchtet. Zwei Tage nach Beginn seiner Ausstellung im Hause Fochier zog es ihn immer wieder in die Nähe dieses Gemäldes, dessen unsichtbarer Inhalt einen unvergesslichen Teil seiner Lebensgeschichte bildete. Oberflächlich betrachtet bestand das Bild aus der Puppe eines Schmetterlings im Vordergrund, einer Frau auf einem von dunklen Häusern umgebenen Platz im Mittelgrund und in strahlende Helligkeit getauchten Wolken im Hintergrund.
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