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Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)

Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)

Titel: Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)
Autoren: Michael Schuck
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Beeindruckend war vor allem der starke Kontrast zwischen den bizarren hässlichen Formen der Schmetterlingspuppe und der Schönheit der Frau. War sie schön? Bei genauerer Betrachtung wäre einem aufmerksamen Besucher sicher aufgefallen, dass die Frau auf diesem Bild offensichtlich ihr Gesicht zu verändern in der Lage war. Ein Effekt, auf den Dalio natürlich besonders stolz war, obwohl er technisch gesehen sehr einfach zu erreichen war. Dalio hatte schon etliche Porträtaufträge auszuführen gehabt. Bei einigen von ihnen war ihm aufgefallen, dass er nur möglichst viele Charakterzüge weglassen musste, und schon erreichte er damit, dass das Wunschdenken und die Stimmungen des jeweiligen Betrachters sie ergänzten und ein Gesicht zusammensetzten, wie es ihm gefiel, wie er eines kannte oder wie ihn eines irgendwann einmal fasziniert hatte.
    Dalio fiel an diesem Abend auf, dass der seltsame Schatten in den Wolken vielleicht doch nicht so sehr auf den Folgen falscher Beleuchtung beruhte. Hatte er etwa dort, in diesem chaotischen Blau-Weiß, beim Malen einen Fehler gemacht, eine falsche Form entfernt und die neue Farbe nicht deckend genug aufgetragen? Während er sich den Vorgang seines damaligen Schaffens ins Gedächtnis zurückrief, gerieten seine Gedanken wieder in die Nähe dieser namenlosen Frau, und gegen seinen Willen kamen ihm die Stationen ihrer Beziehung wieder in den Sinn, anhänglich, penetrant, unabwendbar. Wahrscheinlich war es bei Dalio wie bei einem Kranken, der seine Krankheit vielleicht einmal für ein paar Stunden vergessen konnte, der bei dem geringsten Anlass aber sofort wieder in all den Sorgen und Schmerzen steckte, die ihm seine Krankheit eintrug. Zumal ihn seine Schulter immer noch schmerzte, auch jetzt. Sicher war der Gedanke an einen Erfolg der Ausstellung gerade für ihn als jungen Maler von bestechender Intensität. Aber der Gedanke, einen wesentlichen Fehler auf diesem für ihn so wichtigen Bild gemacht zu haben und, noch schlimmer, ihn übersehen zu haben, wog ungleich schwerer. Und das war nicht nur gekränkte professionelle Eitelkeit, die sich da in ihm meldete. Vielmehr spürte er in sich wieder diese Unsicherheit erwachen, die er erst seit dem betreffenden Erlebnis mit der Namenlosen kannte: die Unsicherheit darüber, ob er dies wirklich erlebt hatte oder nicht. Offenbar war schon solch ein kleiner dunkler Fleck in der Lage, einen grimmigen Zweifel über sein Gedächtnis und seine Wahrnehmungsfähigkeiten in ihm zu entfachen, und Dalio registrierte das mit bitterem Lächeln.
    Ohne Frage war die Ausstellung ein großer Erfolg für Dalio. Die Verbindung surrealistischer Intensität mit geradezu romantischer Genauigkeit, die märchenhafte Themenwahl, der Hauch des Geheimnisses, der nicht nur jenem letzten Bild anhaftete, ließ seine Bilder für die Besucher der Ausstellung zu einer Möglichkeit werden, den Staub des Alltags für ein paar Stunden einmal abzuschütteln und sich ungestraft geheimen Sehnsüchten hinzugeben. Dieser zweite Tag war insoweit besonders erfolgreich gewesen, weil er zum Verkauf von gleich drei Bildern geführt hatte. Und ein Käufer hatte sich sogar für Dalios bislang letztes ausgeführtes Gemälde interessiert: Die Namenlose.
    Jetzt, am Abend, hatten alle Besucher die Ausstellung schon verlassen. Allerdings hörte Dalio den Galeristen irgendwo im Hintergrund lärmend schwere Gegenstände rücken. Aber Dalio ließ sich von dieser Unsensibilität nicht weiter beeindrucken, sondern widmete sich weiter der Frage, wie dieser seltsame dunkle Fleck in die Wolken geraten sein könnte. Er gab die übliche Distanz von drei Schritten auf und ging auf etwa Armeslänge an sein Bild heran. Und dann sah er es genau: Es handelte sich nicht nur um einen Flecken, also etwas Flaches, Zweidimensionales. Hier handelte es sich ohne Frage um etwas beinahe Körperhaftes, etwa von der Größe einer Kinderhand. Dalio brach der kalte Schweiß aus. Die Angst, die ihn jetzt schwungvoll befiel, kannte er nur zu gut. Sie war ihm eine gewissermaßen vertraute Begleiterin geworden, seit ihn diese namenlose Frau zum ersten Mal berührt und ihm damit die Grenze von Wirklichem und Unwirklichem fühlbar verschoben hatte. Dalio erinnerte sich schlagartig an diesen wichtigen Tag in seinem Leben. In dem Augenblick, als jetzt seine sensiblen Fingerspitzen über die Erhöhungen in dem dunklen Fleck glitten, legte sich die tödliche Erschöpfung von damals wieder wie eine Riesenlast auf seine Schultern.
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