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Proust 1913

Proust 1913

Titel: Proust 1913
Autoren: Luzius Keller
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Proust 1913
    Die tumultuarische Uraufführung des
Sacre du printemps
am 29 . Mai 1913 hat Proust zwar miterlebt, doch weder Strawinskys revolutionäre Rhythmen noch Nijinskys ebenso revolutionäre Choreographie hinterlassen in seinen Schriften Spuren, ebenso wenig wie Picassos und Braques Collagen, Apollinaires ausuferndes Gedicht »Zone«, Cendrars’ und Sonia Delaunays in jeder Beziehung grenzüberschreitende
Prose du Transsibérien
oder andere heute als Schwellentexte der Moderne geltende Werke. Allerdings hat auch Proust Raum, Zeit und nicht zuletzt Psyche und Physis neu vermessen und in neues Maß gesetzt. Wer
Du côté du chez Swann
aufschlägt, dem verschlägt es gleich zu Beginn den Atem, so schnell wechselt die Einstellung von Wachen zu Schlaf, von Lesen zu Träumen, von den Ängsten eines Kranken zu den Träumereien und Erinnerungen eines Gesunden; und auch später pendelt die Erzählung zwischen Räumen und Zeiten, zwischen Personen und zwischen Gefühlen: Verlangen, Angst, Liebe, Eifersucht. Und während Apollinaire oder Cendrars ihre Verse bald über das Maß des Alexandriners hinaus dehnen, bald dieses Maß unterschreiten, und während sie ihre Gedichte bald in die Länge ziehen, bald auf ein Minimum verkürzen, schreibt Proust seine langen Sätze und Erzählsequenzen, feilt an Pointen oder inszeniert Dialoge – Dialoge seiner Personen und Prousts Dialog mit seinesgleichen: mit Baudelaire oder Flaubert, Sainte-Beuve oder den Brüdern Goncourt, Racine oder Saint-Simon; Debussy, Franck, Wagner oder Beethoven; Whistler, Monet, Vermeer, Carpaccio oder Giotto. Und auch Proust verwendet immer wieder kubistische Collage-Technik, fügt Bilder, Gedanken und Texte neben oder über andere, wobei die einen die anderen bald ganz, dann wieder nur teilweise überdecken. Dank hundert Jahren Leseerfahrung sehen wir heute vieles, was die ersten Leser vielleicht nur erahnten, und zusammen mit den weiteren sechs Bänden von
À la recherche du temps perdu
gilt uns heute
Du côté de chez Swann
als Jahrhundertroman. Doch blenden wir vom 14 . November 1913 , dem Erscheinungsdatum von
Du côté de chez Swann,
auf den Jahresbeginn zurück.

Januar
    Das früheste datierbare Schriftzeugnis des Jahres 1913 ist ein Brief von Anfang Januar an Madame Straus. Proust kennt die Adressatin – verheiratet in erster Ehe mit dem Komponisten Georges Bizet und Mutter seines Schulfreundes Jacques Bizet, verheiratet in zweiter Ehe mit dem Bankier Émile Straus – seit seiner Schulzeit. Er bleibt ihr zeit seines Lebens freundschaftlich verbunden. Auch im Jahr 1913 ist sie ihm Ratgeberin in allen möglichen (und unmöglichen) praktischen (und unpraktischen) Fragen.
    Mme Straus
    Der Brief beginnt wie so viele Briefe Prousts mit einer Floskel: »Ich habe Ihnen tausend Dinge zu schreiben, aber ich habe ›das Jahr derart schlecht begonnen‹, dass ich weder kommen noch telephonieren konnte.« ( XII , 21 ) Schließlich ist in dem Brief im Wesentlichen von nur drei Dingen die Rede: einem Chauffeur (Corentin), den Madame Straus Proust empfohlen hat, den er aber nicht anstellen kann, da er schon einen anderen (Odilon Albaret) beschäftigt, von Prousts Buch (»von meinem Buch kann ich nichts berichten«) und von einem Zigarettenetui, das er herstellen lässt, um es Calmette, dem Chefredakteur von
Le Figaro,
zu schenken. Von diesem Geschenk wird noch die Rede sein; ebenso von Chauffeuren, die sich im Wissen um Prousts Schwäche für Automobile und deren Fahrer, die »mécaniciens«, wie sie damals genannt wurden, an ihn wenden. In der zweiten Jahreshälfte wird sich Proust ebenso sehr um einen »mécanicien« (Alfred Agostinelli) kümmern wie um sein Buch. Zuerst aber zum Buch.
    »mon livre«
    Blenden wir noch einmal zurück: Anfang 1913 ist es fünf Jahre her, dass Proust von Madame Straus als Neujahrsgeschenk fünf schicke Notizbüchlein erhalten hat. In seinem Dankesbrief vom 2 . Februar 1908 schrieb er: »Ihre kleinen Agenden sind reizend, und der Gedanke, dass sie von Ihnen kommen verleiht ihnen so viel Poesie! Ich bin entzückt und danke Ihnen von ganzem Herzen. Es geht mir weniger gut, deshalb komme ich Sie nicht besuchen. Und ich möchte mich an eine längere Arbeit machen …« ( VIII , 39 ). Das hat Proust auch tatsächlich getan, und die Anfang 1908 erwähnte »längere Arbeit« wird im Lauf der Jahre zu dem Anfang 1913 erwähnten »Buch«. Von einem eigentlichen Buch kann allerdings erst seit dem 14 . November 1913 gesprochen
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