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Doktor Proktor verhindert den Weltuntergang

Doktor Proktor verhindert den Weltuntergang

Titel: Doktor Proktor verhindert den Weltuntergang
Autoren: Jo Nesboe
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1. Kapitel
    Weltkrieg und Schluckauf
    Es war Nacht in Oslo und es schneite. Große, scheinbar unschuldige Schneeflocken trudelten vom Himmel und bedeckten Dächer, Straßen und Parks der Stadt. Jeder Wettervorhersager hätte wahrscheinlich erklärt, dass es sich bei den Schneeflocken um gefrorenen Regen handelte, der aus den Wolken fiel, aber wissen konnte das niemand mit hundertprozentiger Sicherheit. Vielleicht kamen die Schneeflocken ja vom Mond, der hin und wieder durch Risse in der Wolkendecke lugte und die schlafende Stadt in ein magisches Licht tauchte. Die Schneeflocken landeten auf dem Asphalt vorm Rathaus, schmolzen gleich wieder zu Wasser und liefen als kleine Rinnsale zum nächsten Kanaldeckel, durch die Löcher in das darunterliegende Rohr und von dort in ein Netz aus Abwasserkanälen, das sich kreuz und quer unter der Stadt verzweigte.
    Genauso wenig ließ sich mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, was sich in der weit verzweigten Kanalisation unter Oslo alles so tummelte. Aber sollte jemand so dumm und todesmutig sein, sich in dieser Dezembernacht dort hinunterzubegeben, wäre dieser Jemand ganz still und würde die Luft anhalten, käme ihm sicherlich das eine oder andere merkwürdige Geräusch zu Ohren.
    Tropfendes Wasser, gurgelnde Kloake, raspelnde Ratten, ein quakender Frosch – und mit einer gehörigen Portion Pech – das Geräusch eines gigantischen Gebisses, das sich knirschend zu einem riesigen Maul von der Größe eines Schwimmreifens öffnete, das Geräusch tropfenden Anakondaspeichels und schließlich das ohrenbetäubende Krachen der aufeinanderschlagenden Fangzähne. Danach würde für unseren unseligen Freund garantiert absolute Grabesruhe einkehren. Aber sollte unser Held vom Pech verschont bleiben, würde er in dieser Nacht andere Geräusche hören. Erstaunliche Geräusche. Das Geräusch eines zusammenklappenden Waffeleisens, zischender Butter, leise murmelnder Stimmen, eines Waffeleisens, das wieder geöffnet wird. Und dann: genussvolles, stummes Kauen.
    Irgendwann hörte der Schnee zu fallen auf, das Kauen verstummte, die überirdischen Bewohner Oslos erwachten allmählich in einen neuen Tag und begaben sich durch die Dämmerung und den Schneematsch zu ihrer Arbeit und in die Schulen. Und während Frau Strobe ihren Schülern über den Zweiten Weltkrieg erzählte, kroch eine blasse Wintersonne, die mal wieder verschlafen hatte, vorsichtig über die Bergkämme.

    Lise saß an ihrem Pult und schaute an die Tafel, an die Frau Strobe WELLTKRIEG geschrieben hatte. Mit Doppel-L. WELTKRIEG musste das heißen. Das machte Lise ganz fertig – sie legte großen Wert auf korrekte Rechtschreibung –, so fertig, dass sie sich nicht mehr darauf konzentrieren konnte, was Frau Strobe von den Deutschen erzählte, die 1940 Norwegen überfallen hatten und denen von ein paar norwegischen Helden derart der Marsch geblasen wurde, dass am Ende die Norweger den Krieg gewannen und seitdem singen konnten: »Der Sieg ist unser, wir haben gewonnen, der Sieg ist unser.«

    »Und was haben die andern gemacht?«
    »Bei uns meldet man sich, wenn man eine Frage hat, werter Herr Bulle!«, ermahnte Frau Strobe ihn.
    »Das ist mir wohlbekannt«, sagte Bulle. »Aber ich kann nicht erkennen, dass Sie deshalb bessere Antworten bekommen. Mein Motto, gnädigste Frau Strobe, ist, das Wort zu pflücken, wenn es vorbeifliegt …« Der winzige, sehr rothaarige und ziemlich sommersprossige Knirps namens Bulle streckte seine winzige Hand in die Luft und pflückte unsichtbare Äpfel. »So! Das Wort pflücken, es festhalten, es beherrschen, ihm Flügel verleihen und es zu Ihnen fliegen lassen …«
    Frau Strobe senkte den Kopf und starrte mit hervortretenden Augen über den Rand ihrer Brille, die noch einen weiteren Zentimeter auf ihrer langen Nase nach unten rutschte. Und Lise sah zu ihrem großen Entsetzen, dass Frau Strobe die Hand zu ihrem berüchtigten Flache-Hand-aufs-Katheder-Schlag erhob. Das Klatschen von Frau Strobes Handfläche auf der Kiefernholzplatte war grauenerregend. Es heißt, damit hätte sie schon erwachsene Männer zum Weinen gebracht und erwachsene Frauen dazu, nach ihren Müttern zu rufen. Obwohl, wenn Lise es genau überlegte, hatte Bulle das gesagt, und bei ihm konnte man sich nie hundert Prozent sicher sein, dass es auch hundert Prozent stimmte.
    »Was haben die gemacht, die keine Helden waren?«, wiederholte Bulle. »Antwortet uns, werte Lehrerin, deren Schönheit nur von ihrer Weisheit übertroffen
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