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Kunst des Feldspiels

Kunst des Feldspiels

Titel: Kunst des Feldspiels
Autoren: C Harbach
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Lankton hierher
gesessen, und auf seiner Brust hatten die Gurte seiner Reisetaschen ein X aus
Schweiß gebildet. Eine lächelnde Frau in einem dunkelblauen T-Shirt mit dem
Aufdruck eines bärtigen Männergesichts bat ihn, seinen Namen zu buchstabieren.
Henry tat es mit klopfendem Herzen. Mike Schwartz hatte ihm versichert, dass
man sich um alles kümmern würde, aber jede Sekunde, in der die lächelnde Frau
ihre Ausdrucke durchsah, bestätigte nur, was Henry insgeheim bereits die ganze
Zeit über gewusst hatte, was nur noch offensichtlicher wurde durch die
gepflegte Rasenfläche und die umstehenden Gebäude aus grauem Stein, die Sonne,
die gerade erst über dem dunstigen See aufgegangen war, die Spiegelglasfassade
der Bibliothek und das schlanke Mädchen im Tanktop hinter ihm, das auf seinem
iPhone herumtippte und derart mondän gelangweilt seufzte, dass Henry ein Gefühl
unendlicher Fremdheit überkam: Er gehörte einfach nicht hierher.
    Siebzehneinhalb Jahre zuvor war er in Lankton, South Dakota, zur
Welt gekommen. Die Stadt hatte dreiundvierzigtausend Einwohner und war von
Meeren aus Getreide umgeben. Sein Vater war Schlossermeister. Seine Mutter
arbeitete in Teilzeit als Röntgenassistentin am All-Saints-Krankenhaus. Seine
kleine Schwester, Sophie, war im zweiten Jahr an der Lankton Highschool.
    An seinem neunten
Geburtstag war sein Vater mit ihm zum Sportgeschäft gefahren und hatte ihm
gesagt, er könne sich aussuchen, was immer er wolle. An der Wahl hatte niemals
Zweifel bestanden – es gab nur einen einzigen Handschuh im Laden, der den
Namenszug Aparicio Rodriguez in der Fangtasche trug –, aber Henry nahm sich Zeit, probierte jeden einzelnen
Handschuh an, überwältigt von der Tatsache, die Wahl zu haben. Der Handschuh
war ihm damals riesig vorgekommen. Jetzt passte er richtig, war nur etwas
größer als seine linke Hand. Er mochte das, so spürte er den Ball besser.
    Wenn er von
Little-League-Spielen zurückkam, fragte seine Mutter ihn immer, wie viele
Fehler er gemacht habe. »Zero!«, krähte er dann und ließ gleichzeitig seine
Faust in den geliebten Handschuh sausen. Seine Mutter benutzte den Namen noch
immer – »Henry, bitte leg Zero zur Seite!« –, und er zuckte beschämt zusammen,
wenn sie es tat. Aber insgeheim nannte er ihn selbst nie anders. Und er ließ
auch niemanden Zero anfassen. Wenn Henry am Ende eines Innings auf einer Base
stand, hüteten sich seine Teamkollegen, ihm Kappe und Handschuh mit aufs
Spielfeld zu bringen. »Der Handschuh ist nicht einfach irgendein Gegenstand«,
sagt Aparicio in Die Kunst des Feldspiels . »Sich von
ihm zu trennen, und sei es nur in Gedanken, bedeutet für den Infielder, Fehlern
Tür und Tor zu öffnen.«
    Henry spielte
Shortstop, ausschließlich und immer Shortstop – die verantwortungsvollste
Position auf dem Feld. Zu keinem anderen Spieler wurden mehr Aufsetzer
geschlagen als zum Shortstop, und dieser musste dann am weitesten zur First
Base werfen. Er musste außerdem Aktionen einleiten, mit denen sie gleich zwei
Spieler ausschalten konnten, verhindern, dass die Second Base gestohlen wurde
oder dass sich Läufer zu weit von ihr entfernten, und Bälle aus dem Outfield
schnellstmöglich weiterleiten. Jeder Little-League-Trainer, den Henry je gehabt
hatte, hatte ihn kurz angesehen und dann in Richtung rechtes Outfield oder
Second Base gezeigt. Oder aber der Coach hatte nirgends hingezeigt und bloß die
Achseln gezuckt angesichts des Schicksals, das ihm diesen erbärmlichen Wurm,
diesen geborenen Bankdrücker geschickt hatte.
    Und wenn er auch sonst
im Leben nie frech war, hier war er es: Was auch immer der Trainer sagte oder
was seine Augenbrauen zum Ausdruck brachten, er trabte zur Shortstop-Position,
rammte die Faust in Zeros Fangtasche und wartete. Wenn der Coach ihn anbrüllte
und zur Second Base oder ins rechte Außenfeld oder nach Hause zu seiner Mami
schickte, blieb er einfach stehen, blinzelnd und taub, und ließ immer wieder seine
Faust in den Handschuh sausen. Irgendwann schlug ihm dann jemand einen
Aufsetzer zu, und er konnte zeigen, was er draufhatte.
    Und was er draufhatte,
war das Spiel im Feld. Solange er denken konnte, hatte er sich damit
beschäftigt, wie der Ball vom Schläger abprallte, mit den Winkeln und dem
Drall, sodass er schon vorher wusste, ob er nach rechts oder nach links
ausbrechen sollte, ob der auf ihn zufliegende Ball aufsteigen oder flach im
Staub landen würde. Er fing den Ball immer sauber und machte immer
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