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Kürzere Tage

Kürzere Tage

Titel: Kürzere Tage
Autoren: Anna Katharina Hahn
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bis zum Wipfel eingepackt, Schafe und Hühner als blökende und gackernde Gespenster aus dem Dunst auftauchen lassen.
    Heute scheint die Sonne wieder, aber der Nachmittag ist trotz des blauen Himmels kühl. Blätter trudeln unaufhörlich aus den Baumkronen, gelb, dunkelrot und bräunlich glänzend wie abgenutztes Leder. Das Gelände am Hang ist riesig und zugewachsen mit Sträuchern und Pflanzen, die Leonie nicht kennt. Auf dem gegen die gefräßigen Vierbeiner sorgfältig abgezäunten Gartengelände der ›Zaunkönige‹ hat Leonie zum ersten Mal eine Rhabarberpflanze gesehen. In freier Natur würde Leonie keinen Tag überleben, obwohl sie in einem grün eingewachsenen Reihenhaus in Feuerbach groß geworden ist. Krumme Sandsteintreppen und schmale Trampelpfade schneiden sich durch den Wildwuchs und führen zu selbstgezimmerten Hütten, einem Holzwigwam, den Ställen. Es gibt auch eine sandige Kuhle, eingefaßt von Felsquadern, in der ein Klettergerüst mit Rutschbahn steht. Das Grundstück gehört der Kirche, und diese hat in den Siebzigern einen Flachdachbau errichtet, große Räume mit buntenLinoleumböden und spartanischen Möbeln. Hier treffen sich die Kinder des Viertels unter den Augen von Erziehern und Zivildienstleistenden. Seit sie im Sommer hergezogen sind, ist kaum ein Tag vergangen, an dem Leonie und ihre Mädchen nicht bei den ›Zaunkönigen‹ aufgetaucht wären. Lisa und Felicia streicheln mit Begeisterung die Schafe, deren schmutzige Wolle sich »ein bißchen wie fettige Haare« anfühlt, und halten Leonie streng dazu an, Salatblätter und andere Küchenabfälle zum Füttern der Hasen aufzubewahren. Auf das Halloween-Fest fieberte Lisa seit Tagen hin. Immer wieder mußte Leonie den mit einem grinsenden Kürbis verzierten Zettel vorlesen, den sie am Kühlschrank festgeklebt hatten: »Wir feiern Halloween. Kommt gruselig verkleidet und macht mit beim Spukgeschichtenerzählen, Geisterbahn und Fakkellauf!« Daß die Gruselnacht vor Allerheiligen laut Kalender erst in einer Woche stattfindet, scheint hier niemand zu stören. »Die Kids finden Halloween besser als Fasching. Wir ham’s bissle vorgezogen. Am Feiertag selber sind zu viele weg, da kommt keiner«, hatte ihr Bernd, einer der Erzieher, erklärt.
    Simon wird vom Trubel hier nicht viel mitbekommen. Er hält sich abseits vom Gewimmel der verkleideten Kinder wie ein professioneller Geisterjäger, ein Man in Black in Anzug und Mantel. In seiner Aktentasche hat er vielleicht eine Laserkanone versteckt, die perverse Wesen in eine Pfütze grünlichen Schleims verwandelt. Daß er an einem gewöhnlichen Dienstag hier auftaucht, um seine Töchter in ihren Verkleidungen zu bewundern, ist reiner Zufall; es gab ein Geschäftsessen hinter der verglasten Veranda des Fischtempels ›Sole e Luna‹ an der Neuen Weinsteige. Er wird gleich ins Auto steigen und zurück ins Büro fahren.
    Dabei hat Simon diesen Platz für die Mädchen entdeckt. Mitten im Umzug, mit einer Brötchentüte für die Handwerker unter dem Arm, öffnete er das schmiedeeiserne Tor, dessen verblichene Beschriftung »Kinderbauernhof ›Bei den Zaunkönigen‹.Mo-Sa 10-18 Uhr« seine Entdeckerlust reizte. Simon ist viel neugieriger als Leonie, die es fertigbrachte, in Heumaden, ihrem alten Wohnort, hundertmal an der Kirche mit den Fresken aus dem 13. Jahrhundert vorbeizugehen, vor der ein Schild lockte: »Die einzig bekannte Darstellung eines weiblichen Teufels im württembergischen Raum«. Erst in der Woche vor dem Umzug war sie, schon in Abschiedsstimmung, in den hellen, merkwürdigerweise nach Apfelkuchen riechenden Raum getreten. Automatisch beugten sich ihre Knie am Eingang, wanderte die Rechte auf der Suche nach dem Weihwasserbecken, das in der evangelischen Pfarrkirche natürlich fehlte, die Wand entlang. So zog sie schließlich mit trockenen Fingerspitzen die beschützenden Linien über Stirn, Brust und Schultern. Ihr Kopf senkte sich unter dem milden Blick des scheinbar mühelos baumelnden Christus. Fasziniert betrachtete sie die schwarzen Nägel in Handflächen und Füßen, die diskret blutende Seitenwunde, murmelte halblaut: »Beschütz Simon und meine Mädchen, laß sie gesund bleiben, Amen.« Die geflüsterten Worte waren wie ein Opfer, nicht vergleichbar mit der undurchschaubaren Verwandlung der blassen Oblaten, sondern eine Beschwörung, die in ein anderes Zeitalter gehörte: Gibst du mir, dann geb ich dir und streue Weihrauchkörner in die Altarflamme, verbrenne ein gemästetes
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