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Kürzere Tage

Kürzere Tage

Titel: Kürzere Tage
Autoren: Anna Katharina Hahn
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Synthetikhosen, der Freizeithemden mit Blumenaufdrucken, der»Kampftrinker«-T-Shirts und von Freunden gestochenen Tattoos. Dies alles gehörte zu den Insignien eines unberechenbaren, verachtenswerten Stammes, dem Leonie in den Jahren ihres Zusammenlebens nie nähergekommen war.
    Doch Simon war entkommen, nackt und bereit, zivilisiert zu werden, wie Robinsons Freitag. Der uneheliche Sohn einer Parfümerieverkäuferin aus dem Hohenlohischen hatte den wütenden Wunsch, Geld zu verdienen, der ihn schon zu Schulzeiten härter und entschlossener gemacht hatte als die Kids aus Leonies Milieu. Hier plante man bestenfalls bis zum Zivildienst oder zur nächsten Interrailtour. Nur wenn sie streiten und sich im Gebrüll voneinander entfernen, wenn er ihren Arm packt, daß man den Abdruck seiner Finger noch Stunden später sehen kann, und sie mit Worten beschimpft, die so ordinär sind wie der abgasschwarze Betonklotz an der Hauptverkehrsader der ›Schwabenbronx‹, wo er aufgewachsen ist, spürt sie, daß Simon nie ganz zu ihr gehören wird.
    Leonie war Simon an einem ihrer letzten Schultage buchstäblich in die Arme gelaufen, schwankend von zu süßem Sekt und leicht hysterisch wegen eines aus dem Ruder gelaufenen Abischerzes – ein mit Luftballons bis unter die Decke vollgestopftes Schulhaus, Fingerfarbengraffiti auf den Lehrerautos und Verteilung von Kondomen mit Erdbeergeschmack an die Unterstufe. Sie hatte ihn über den Hof kommen sehen. Er spaltete die in Empörung und Begeisterung wogende Menge der Lehrer und grölenden Teenies wie ein grinsender Moses das Rote Meer: 1,90 m, nachlässig latschend und unrasiert.
    Simons schlechter Ruf speiste sich aus verschiedenen Quellen: Das Kollegium des Gymnasiums an der Schillerstraße, wo man sich gerne damit rühmte, schon Mörike hinter dem Katheder gehabt zu haben, litt unter dem Schwänzer und Klassenclown, der aber trotz aller Kapriolen nie ernsthaft seinen Notendurchschnittgefährdete. Bei den Mitschülern war er bekannt als Verticker diverser Waren, von illegal kopierten Computerspielen bis zu leichten Drogen. Es gab ein paar schicke, selbstsichere Mädchen, mit denen er auf dem Hof herumstand und rauchte. Feste Verhältnisse schienen hier nicht zu herrschen. Er lebte allein mit seiner Mutter, und über ein geknurrtes »Hallo« war sein Kontakt zu Leonie nie hinausgekommen.
    Leonie, rothaarig, blaß und sehnig, hatte die Leistungskurse Sport und Französisch. Sie verabscheute Kaffee, Zigaretten und das Sexualprotzentum der angesagten Cliquen. Sie war zufrieden im Kreis ihrer kichernden Freundinnen, die blonde Pferdeschwänze trugen, am Freitagabend mit ihr in die Edeldisco am Höhenpark Killesberg gingen und deren Brüder allesamt Marc oder Oliver hießen und versuchten, Leonie nach dem Tennis abzuschleppen.
    Es ist Leonie bis heute nicht klar, warum sie mit tranigen Bewegungen wie ein steuerloses Schiffchen auf Simon zugedümpelt war. Es erschien ihr ganz natürlich. Er überragte die meisten und bot ein leicht erreichbares Ziel. Sie blieb unmittelbar vor ihm stehen, ganz Sportplatzkönigin in weißen Jeans und ärmelloser Karobluse, stöhnte: »Es kotzt mich alles an!«, ließ sich gegen ihn fallen, aus dem Zehenspitzenstand, um seinen Hals leichter umschlingen zu können, schloß die Augen und atmete seinen Geruch ein. After-shave und darunter etwas Wildes, das nichts zu tun hatte mit dem Sockenmuff und Bierschweiß, den sie von ihren Verehrern kannte. Sie hörte sein überraschtes »Hey!«, fühlte seine Lippen an ihrem Hals, das Kratzen der Bartstoppeln und einen Stromschlag, der von der weichen Haut ihrer Kehle herabzuckte bis in die Eingeweide. Am nächsten Abend schlief sie mit ihm auf der Rückbank seines alten Fiats, versuchte dann hektisch, das Blut mit Tempotaschentüchern aus den Bezügen zu reiben, während er kopfschüttelnd auf den Vordersitz kletterte: »Mansollte nicht glauben, daß es für dich das erste Mal war. Aber ich bin froh, daß dich diese Tennistypen nicht gekriegt haben.«
    Bis auf eine von ihm verordnete Zwangspause von einem Jahr – »Ich habe keine Zeit für eine Freundin, ich mache meinen Abschluß an der Berufsakademie und baue meiner Mutter ein Haus!« –, in der Leonie für ein Semester nach Montpellier ging, um die Bekanntschaft von drei weiteren Penissen zu machen, waren sie zusammengeblieben.
    Sie rechnet nicht gerne nach, wie lange sie und Simon schon ein Paar sind. Sie schämt sich manchmal dafür, seit über zehn Jahren mit
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