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Kürzere Tage

Kürzere Tage

Titel: Kürzere Tage
Autoren: Anna Katharina Hahn
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Kalb. Diese krude Metaphysik stammte noch aus den Zeiten des täglichen Abendgebets, war ungeformt durch die Jahre mitgewandert, zusammen mit Bruchstücken des Rosenkranzes, dessen »Frucht deines Leibes« für Leonie immer ein Granny Smith war, mit den Bildern aus der Kinderbibel – Adam und Eva in Fellkostümen, ängstlich geduckt unter dem Flammenschwert des Engels. Leonies Mutter stammt von Sudetendeutschen ab, und die Pflege der katholischen Wurzeln war in der schwäbischen Diaspora ein Muß; Leonie war jahrelang Ministrantin.
    Erst nach dem Ritual des Bekreuzigens erlaubte sich Leonie,im Vorraum eine Broschüre zu nehmen und unter deren Führung mit in den Nacken gelegtem Kopf die Seitenschiffe entlangzuschreiten auf der Suche nach der Teufelin. Schnell entdeckte sie im Gewimmel ausgebleichter Gestalten eine schwarzbraune Figur. Leonie war enttäuscht über den geschlechtslosen Körper der Dämonin, ihre Plumpheit und Unfertigkeit. Eine kaum sichtbare Wölbung ließ die Brüste bestenfalls erahnen, der plumpe Leib ohne Schoß und Hintern wirkte wie ein auf die Wände geklebter Scherenschnitt. »Was hast du denn erwartet, ein Pinup?« hatte Simon sie geneckt, als sie ihm empört berichtete. Sie konnte nicht in Worte fassen, was sie störte. Natürlich hatte Simon sie durchschaut: Wenn sie schon einmal ihren Trott durchbrach, aus der üblichen Route zwischen Büro, Kindergarten, Spielplatz, Supermarkt ausscherte und etwas Ungewöhnliches tat, etwas eigentlich Sinnloses, das weder für ihren Job noch für die Familie von Bedeutung war, wollte sie auch dafür belohnt werden. Zum Beispiel mit einer vollbrüstigen Teufelin mit feisten Hinterbacken, von der sie Simon abends im Bett erzählen konnte, wenn sie nebeneinanderher dämmerten, Gesicht an Gesicht, und sie seinen weichen Penis in der Hand hielt, enttäuscht, wenn er sich nicht regte, und fast ebenso enttäuscht, wenn er unter ihren Fingern wuchs und den so kostbar gewordenen, viel zu früh unterbrochenen Schlaf um mindestens eine halbe Stunde verkürzte.
    Lisas Finger, feucht und heiß vor Aufregung, ziehen Leonie über den Platz vor dem Haus. Ihre Augen suchen die großen Mädchen, die sich schon die besten Plätze am Lagerfeuer gesichert haben. Im Kessel über den Flammen brodelt eine dicke gelbe Suppe, es riecht nach Knoblauch. Im Kreis sieht man spitze Hexenhüte, Ketten aus Plastikknochen, lange Raschelröcke, grün geschminkte Gesichter. Leonie muß überlegen, bevor sie hinter den Hexen, Vampiras und toten Prinzessinnen dieTeenager erkennt, die sonst Ball spielen oder von Musikvideos inspirierte Tanzvorführungen einüben. Sie ist stolz auf Lisa, die, ohne zu zögern, ans Feuer tritt und sich stumm neben die Älteren setzt. Leonie dreht sich zu Simon, um einen Elternblick zu tauschen. Felicia untersucht einen Klumpen Erde. Bevor sie ihren Fund in den Mund stecken kann, schreit Leonie: »Simon!«, und er beugt sich zu ihr hinunter, als hätte er alle Zeit der Welt, entfernt etwas Dreck aus ihren Mundwinkeln. Aber er kommt nicht näher zu ihnen. Sie hat den Eindruck, er will seine Bürokleidung möglichst nicht in die Nähe klebriger Kinderfinger geraten lassen.
    Im Anzug kann Simon immer noch aufregend wirken. Unter dem schwarzen Kurzmantel schimmert der graugrüne Stoff. Das weiße Hemd, die orange glühende Krawatte sind mit Geschmack – seinem, nicht ihrem – ausgesucht. Sie ist froh, daß er ihren Rat nicht mehr braucht. Als Simon nach der Berufsakademie von der Firma übernommen wurde, für die er schon als Schüler gejobbt hatte, gingen sie zum ersten Mal miteinander einkaufen. Seit sie Kind war, stand sie in dem Traditionskaufhaus am Marktplatz hinter den Vorhängen der Umkleidekabine, während ihre Mutter Jahr für Jahr Kleider heranschleppte: vom ersten Minirock bis zur Robe für den Abschlußball. Leonie ließ Simon in seinen Boxershorts unter der Neonröhre sitzen und hängte ihre Wahl wortlos von außen über die Stange: unifarbene Hemden, zeitlose Schnitte, unauffällige Stoffe, Krawatten und Socken, auf denen sich keine Comicfiguren tummelten. Nur das Klirren der Drahtbügel hatte ihre Wut verraten, auf die Welt, aus der Simon kam und die ihm lebenslänglich im Weg stehen würde, wenn er sie nicht vollständig preisgab. Es war die Welt der ausgetretenen Noname-Turnschuhe und der Flip-Flops, die in den Achtzigern Gummilatschen hießen und nicht lässigen Stadtsommer, sondern verschärftes Proletentum signalisierten, die Welt der billigen
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